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Ostfriesland zur Zeit Napoleons
aus: Die Leuchtboje, Heft 19, Leer o.J. Das folgende Heft aus der Schriftenreihe "Die Leuchtboje", herausgegeben in Leer für die damaligen Volksschulen, kostete in jenen Tagen 2.10 DM. Leider ist es nicht mehr erhältlich. Zwar ist es nicht weiter schwierig, die 65 Seiten zu kopieren, was jedermann tun kann, der das ganze Heft lesen möchte (deshalb das ganze Inhaltsverzeichnis!!), aber für die Napoleonzeit habe ich nur die beiden wichtigen Kapitel eingescannt und mit Zahlenmaterial (Preise, Maße und Gewichte, usw. aus dem Buch) angereichert. Harry Pladies Ostfriesland im Zeitalter Napoleons aus: Die Leuchtboje, Heft 19, Leer o.J. Inhaltsverzeichnis Ostfriesland in den Jahren nach der französischen Revolution
Ostfrieslands Blütezeit während der Neutralität Preußens
Wirtschaft, Handel und Schiffahrt nehmen einen großen Aufschwung
Ostfriesland - 11. Departement des Königreiches Holland
Holländische Truppen besetzen Ostfriesland - S. 24
Die Auswirkungen der Kontinentalsperre auf Ostfriesland
Französische und holländische Gesetze verbieten den Handel
mit England - S. 29
Ostfriesland - Departement de l'Ems oriental
Ostfriesland wird eine Provinz des Kaiserreiches Frankreich - S. 38
Ostfriesland während der Befreiungskriege und zur Zeit des Wiener
Kongresses
Preußen erhebt sich gegen die Herrschaft Napoleons - S. 50
Währungen in Ostfriesland um 1800 - S. 61 Worterklärungen - S. 62 Quellen und Literaturverzeichnis - S. 63
Ostfriesland - 11. Departement des Königreiches Holland
HOLLÄNDISCHE TRUPPEN besetzen OSTFRIESLAND 11 Tage nach der Schlacht von Jena und Auerstädt setzten am 25. Oktober 1806 holländische Truppen auf Befehl ihres Königs Louis Bonaparte, eines Bruders Napoleons, über die Ems und zogen in Leer ein. Einige Tage später marschierten sie nach Emden und Aurich. Die Besetzung Ostfrieslands vollzog sich ohne Kampf, denn die preußischen Truppen waren schon vorher abgezogen. Während der preußisch-französische Krieg noch mehrere Monate andauerte, war er für Ostfriesland beendet. Die Jahre der Fremdherrschaft begannen. Der holländische Gouverneur warnte alle Einwohner des Landes in einer öffentlichen Bekanntmachung: "WARNUNG! Wir, Bonhomme, Gouverneur-General von Ostfriesland
und der beigelegten Lande, tun allen denjenigen, die dieses sehen, lesen
oder hören werden, hiermit zu wissen:
Im Frieden zu Tilsit (1807) mußte Preußen alle Gebiete westlich der Elbe an das Kaiserreich Frankreich abtreten. Napoleon bestimmte, daß Ostfriesland, das Jeverland, Varel und Knyphausen als 11. Departement dem Königreich Holland angegliedert werden sollten. Das Rheiderland wurde der Provinz Groningen hinzugefügt. Am 11. März 1808 erfolgte in Aurich die feierliche Übernahme des Departements durch das Königreich Holland. Die Kirchenglocken läuteten. Geschütze feuerten 21 Salutschüsse ab. Auf dem Turm des Auricher Schlosses wurde die holländische Fahne gehißt. Königlich-holländische Wappen am Schloß und am Rathaus zeigten den Beginn der holländischen Herrschaft an. Nur wenige Menschen nahmen an dieser Feier teil. Um alle Einwohner des Landes zu unterrichten, wurde ein Aufruf in holländischer und deutscher Sprache in der Wochenzeitung veröffentlicht und an Rathäusern und Kirchen ausgehängt. Ostfriesland war jetzt eine holländische Provinz, die Bewohner Untertanen des französischen Königs von Holland. Sie sollten nun auch "wahre Holländer" werden. Manche Ostfriesen sprachen holländisch und konnten sich gut mit den Holländern verständigen. In einigen reformierten Kirchen wurde seit der Reformation holländisch gepredigt. Alle Schreiben an Verwaltungsstellen mußten in holländischer Sprache abgefaßt werden. Für eine Übergangszeit war zwar noch die deutsche Sprache zugelassen, es mußte jedoch mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden. Gesetze, Aufrufe und amtliche Mitteilungen ließ die neue Regierung in der Zeitung zweisprachig drucken. Die deutschen Monatsnamen wurden auf königlichen Befehl abgeschafft und durch die holländischen Namen ersetzt: Louwmaand - Sprokkelmaand -Lentemaand - Grasmaand -Bloeimaand - Zommermaand -Hooimaand - Oogstmaand -Herfstmaand - Wynmaand -Slachtmaand - Wintermaand. Zwischen Ostfriesen und Holländern gab es schnell persönliche Beziehungen, denn sie kannten sich als Nachbarn, und manche Familienbande gingen über die Grenzen hinweg. Auch die holländischen Soldaten und Zöllner mußten die Befehle eines fremden Herrschers ausführen. Ihr Land war nicht frei, sondern ebenfalls von Frankreich abhängig. Der in Aurich eingesetzte holländische Landdrost van der Capellen wurde bald nach Antritt seines Amtes geschätzt. Die Bevölkerung konnte sich in allen Angelegenheiten direkt an ihn wenden. Er bemühte sich sehr, Wirtschaft und Handel zu beleben. Straßen sollten befestigt und Kanäle gebaut werden. Leider war seine Amtszeit zu kurz, um diese Pläne zu verwirklichen. Als der Landdrost Ostfriesland verließ, sah die Bevölkerung ihn mit Bedauern scheiden und gab ihm aufrichtigen Herzens das Geleit. Trotz der persönlichen Beziehungen der Ostfriesen
zu den Holländern und ihrer Sympathien für den Landdrosten van
der Capellen lehnte die Mehrheit der Ostfriesen die neue Obrigkeit ab.
Für sie galt Ostfriesland als widerrechtlich besetzt.
BESATZUNG und STEUERN LASTEN auf der BEVÖLKERUNG Die Besetzung durch fremde Truppen zwang dem Lande drückende Lasten auf. So mußten z. B. im November 1807 für das 9. holländische Regiment geliefert werden: 800 Zentner Weizenmehl
Die in Aurich, Leer und anderen Orten stationierten Soldaten waren in Privathäusern einquartiert. Die Wirtsleute mußten ihnen Betten zur Verfügung stellen und für Licht, Feuerung und Verpflegung sorgen. Sie erhielten zwar aus der Landeskasse täglich 6 Stüber holländisch, aber der Betrag reichte nicht aus. Den Rest mußten die Wirtsleute aus eigner Tasche bezahlen. In Emden lagen die einfachen Soldaten in der Kaserne. Die Stadt mußte für Licht, Feuer und Heizung sorgen und täglich für jeden Soldaten liefern: 3 Stüber holl.
in barem Geld
Die Offiziere wohnten mit ihren Bediensteten privat und mußten unentgeltlich beköstigt werden. Besonders drückend waren die neuen Steuern. In der preußischen Zeit zahlte Ostfriesland jährlich 24 000 Thaler an den preußischen König. Für das Jahr 1808 sollte die Provinz 1 Million Gulden holländisch an Steuern aufbringen. Ab 1. Januar 1809 wurden im "Departement Oost-Vriesland" alle in Holland geltenden Lasten, Abgaben und Steuern eingeführt. Die Steuerordnung galt ohne Ausnahme für alle Bewohner, niemand konnte sich ihr entziehen. Neben den Grundsteuern für den Haus- und Landbesitz mußten für fast alle Gebrauchsgüter und Waren, für Tiere und Dienstleistungen Steuern gezahlt werden. Auszüge aus der damaligen Steuerordnung zeigen, wie umfangreich und umfassend das neue System war. Abgaben sind zu zahlen:
von allen Pferden, die älter als drei Jahre sind und zum Vergnügen oder zum notwendigen Gebrauch oder zur Vermietung an andere oder zum Transport von Reisenden gehalten werden für die Beförderung von Reisenden mit Fuhrwerken oder beritten oder für die Überfahrten auf Fähren; von den Möbeln, d.h. für alle Gegenstände aus Eisen und Stahl zum häuslichen Gebrauch, für Musikinstrumente, Puppen und Gemälde, die zur Zierde der Wohnung dienen. Außerdem für alles, was in der Haushaltung zur Verzierung, Bequemlichkeit, zur Pracht und zum Luxus gebraucht wird und in den Häusern, Ställen und Kutschhäusern sich befindet; für Feuerstellen und Herdstellen, auf welchen Feuer angezündet werden kann; für Seife, sie mag weiß, gefärbt oder gestreift sein, gleich von welcher Form; für das Wiegen aller Waren und Kaufmannsgüter, die mit einem Gewicht von mehr als 20 Pfund verkauft oder auf der Waage gewogen werden; von dem runden Maß für alle Waren und Kaufmannsgüter, die mit einem Hohlmaß gemessen werden. Z. B.: Weizen, Erbsen, Zwiebel- und Kleesaat, Roggen, Gerste, Hafer, Bohnen, Zement, Kalk, Kohlen; für alle Schiffe, Schuten und Fahrzeuge, die zum Transport von Gütern und Reisenden oder zum Vergnügen auf dem Wasser gebraucht werden. Sie mögen segeln können oder von Pferden gezogen oder mit einem Stock fortgeschoben werden; für Gegenstände von Handel und Luxus: z. B. für Taschenuhren - Parfümerien - bronzene, metallene, vergoldete und andere Sachen, die als Schmuck dienen - verarbeitete Gold- und Silbersachen - einige Kleidungsstücke, z.B. Tücher, Handschuhe, Strümpfe, Hosenträger, Schuhe - Kalender, Zeitungen und Zeitschriften -Spielkarten; für die Gewerbeerlaubnis: Ohne eine besondere Genehmigung darf niemand einen Handel, Beruf oder ein Gewerbe ausüben; für Veranstaltungen zu Luxus und zum Vergnügen: z. B. Schaubühnen, Kunstreiter Seiltänzer, Konzerte, Feuerwerke, Pferderennen. Für das Tragen von Puder. In Dornum wurden dem Steuereinnehmer am hellen Tage die Fenster eingeworfen. Dabei drohte man ihm, sein Haus nächstens in Brand zu stecken, falls er sein Amt nicht niederlege. Eintreffendes Militär schützte den Bedrohten gegen weitere Gewalttätigkeiten. Ähnliche Unruhen gab es auch in Dunum, Westeraccum und in mehreren anderen Orten. Am schlimmsten war es in Esens. In zehn Häusern, in denen Steuerbeamte wohnten, schlug man die Fenster ein. Der Rädelsführer, ein Bauer, wurde verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Daraufhin zogen am nächsten Tage ungefähr 100 Bauern nach Esens. Sie stürmten erst das Haus des Oberamtmannes. Dann liefen sie zum Amtsgericht, schlugen die Fenster ein, erbrachen die Türen des Gefängnisses, befreiten den eingesperrten Bauern und führten ihn im Triumph in seinen Heimatort Borgholt zurück. Zwei Tage später marschierten 40 Soldaten und einige Gerichtsdiener nach Borgholt, um den mit Gewalt befreiten Bauern wieder gefangenzunehmen. Sofort rotteten sich ungefähr 400 Bauern zusammen. Sie zogen dem Militär entgegen, schossen auf die Soldaten und verwundeten zwei Gerichts diener. Aber bald zerstreuten die Soldaten die Ansammlung, verfolgten die flüchtenden Bauern bis Ochtersum und führten 24 von ihnen als Gefangene nach Esens. In der nächsten Zeit sorgten vier Brigaden Gendarmen in Esens für Ruhe und Ordnung. Alle Bauern aus Borgholt, Ochtersum, Utarp und Umgebung mußten ihre Gewehre abliefern. Der einsichtsvolle Landdrost van der Capellen ließ
die an den Unruhen beteiligten Einwohner nicht bestrafen. Im Gegenteil,
in öffentlichen Bekanntmachungen forderte er die Steuereinnehmer zur
gerechten Festsetzung der Abgaben auf und stellte Willkür und Ungerechtigkeit
bei der Steuereinziehung unter Strafe.
Die AUSWIRKUNGEN der KONTINENTALSPERRE auf OSTFRIESLAND (1806-1813> FRANZÖSISCHE und HOLLÄNDISCHE GESETZE verbieten den HANDEL mit ENGLAND In jahrelangen Kriegen und zahlreichen Feldzügen besiegte Frankreich die Großmächte des europäischen Festlandes. Osterreich, Preußen und Rußland wurden gezwungen, sich mit Frankreich zu verständigen und zu verbünden. Von allen bisherigen Gegnern blieb als einziger England unbesiegt. Es war der stärkste Feind des Kaiserreiches Frankreich. Vergebens hatte Napoleon versucht, das Inselreich in Land- und Seeschlachten zu bezwingen. Sein Feldzug in Ägypten (1798/99) scheiterte. Pläne für eine Eroberung Englands wurden ausgearbeitet, konnten aber nicht verwirklicht werden. In der entscheidenden Seeschlacht von Trafalgar (Oktober 1805) vernichtete die englische Flotte unter Admiral Nelson die verbündete französisch-spanische Flotte. Mit dem Schwert war England nicht mehr zu besiegen. England trieb auch während des Krieges einen regen Handel mit den nicht von Frankreich beherrschten Länder~ des Festlandes. In den Häfen der Nord-und Ostsee lagen zahlreiche englische Schiffe vor Anker, die Kolonialwaren und Erzeugnisse der englischen Textil- und Eisenindustrie zum Festland brachten. Für die Rückfahrt nach England wurden sie vor allem mit Getreide und Holz beladen. Napoleon versuchte, den gesamten Handel und Verkehr zwischen England und dem europäischen Kontinent zu unterbinden. Dadurch wollte er das bedeutendste Handels- und Industrieland der damaligen Zeit wirtschaftlich schwer schädigen und in Not und Armut stürzen. Die Kontinentalsperre sollte England in die Knie zwingen. Im Dezember des Jahres 1806 wurden die Bestimmungen über die Kontinentalsperre in dem von holländischen Truppen besetzten Ostfriesland bekanntgegeben. Napoleon hatte im eroberten Berlin folgendes Gesetz erlassen: "Über die Britischen Inseln wird die Blockade verhängt:
Louis Bonaparte, König von Holland, erließ zu diesem Gesetz genaue Anweisungen. Von Stund an konnten keine Schiffe ohne einen besonderen vom König unterzeichneten Erlaubnisschein aus einem holländischen oder ostfriesischen Hafen aussegeln. Sie durften nur Häfen des Kaiserreiches Frankreich und Häfen verbündeter oder neutraler Länder anlaufen. Jede Verbindung mit England und jedes Zusammentreffen mit englischen Schiffen waren strengstens verboten. Holländische Beamte durchsuchten alle ein- und auslaufenden Fischerboote nach verbotenen Waren. Die Postvorsteher mußten Pakete und Briefe, die aus England kamen oder nach England geschickt werden sollten, der Polizei übergeben. Holländische Gendarmen und Zöllner, "Commisen" genannt, wachten darüber, daß diese Anordnungen genau eingehalten wurden. In Ostfriesland gab es nur noch wenige Schiffe, die mit königlicher Sondererlaubnis hinaus aufs Meer fahren konnten. Ihre Ziele lagen vor allem an der Westküste Schleswig-Holsteins, in Dänemark und Norwegen. Aber auch diese noch offenen Seewege wurden bald versperrt. Napoleon ließ jedes Schiff, das mit englischen Schiffen, mit den Britischen Inseln oder mit englischen Kolonien in Berührung gekommen war, beschlagnahmen. Die Engländer übten Vergeltung für diese Maßnahme. Sie blockierten immer schärfer die Nordseeküste und brachten alle Schiffe auf, die zwischen den unter französischer Kontrolle stehenden Häfen verkehrten. Im Januar 1808 wurde befohlen, sämtliche Häfen des Königreiches Holland, zu dem auch Ostfriesland gehörte, allen Handelsschiffen zu verschließen, "sie mögen Namen haben wie sie wollen und ohne alle Ausnahmen". Auf jedem auslaufenden Fischerboot sollte ein Soldat mitfahren. Damit war der ostfriesische Seehandel endgültig
vernichtet. Der einzige Ausweg, Seefahrt und Handel zu treiben, blieben
Schmuggel und Schleichhandel.
SCHMUGGLER und HÄNDLER durchbrechen die SPERRE Trotz der strengen Sperrmaßnahmen und der Überwachung der Küsten unternahmen zahlreiche ostfriesische Schiffe Schmuggelfahrten nach Helgoland, das damals zu England gehörte. Die Felseninsel war ein starker Stützpunkt für englische Kriegsschiffe, die von hier aus den Seekrieg gegen Frankreich in der Nordsee führten. Helgoland war außerdem ein bedeutender Stapelplatz für englische Kolonial- und Fabrikwaren. Diese Güter wurden z. T. in Geleitzügen von 30 bis 40 Handelsschiffen unter dem Schutz englischer Kriegsschiffe auf die Insel gebracht. Zeitweise sammelten sich dort so viele Waren an, daß die Lagerhäuser nicht ausreichten, um sie aufzunehmen. Unter freiem Himmel mußten sie gestapelt werden. Bedeutende Handelshäuser aus England, Deutschland und Holland hatten auf Helgoland ihre Büros errichtet. Oft ankerten 300 bis 400 kleinere und größere Schiffe vor der Insel. Darunter befanden sich manchmal bis zu 90 ostfriesische Binnenschiffe, Küstenfahrer und Fischerboote. Bald nahm der Handel trotz der französischen Verbote solch einen Umfang an, daß die Insel den Beinamen "Klein-London" erhielt. Es gab kaum Orte an der Küste und auf den Inseln Ostfrieslands, von denen aus nicht Schmuggelfahrten unternommen wurden. Selbst kleine Schiffe, die früher nur auf der Ems, im Wattenmeer oder auf den Kanälen fuhren, wurden jetzt für eine Seefahrt ausgerüstet. Stadt- und Landbewohner, Kaufleute, Bauern und Handwerker, Reiche und Arme, Alte und Junge, Männer und Frauen - sie alle nahmen in irgendeiner Form am Schmuggel oder am Schleichhandel teil. Eine Fahrt nach Helgoland war für jeden ein großes Abenteuer. Wagemut, Vorsicht und Verschwiegenheit gehörten dazu, wenn das Unternehmen gelingen sollte. Mancher, der früher nicht den Mut gehabt hatte, ein Schiff für eine größere Seereise zu besteigen, wagte sich jetzt aufs Meer. Nach Einbruch der Abenddämmerung verließen dunkelgekleidete Gestalten die Häuser. Sie schlichen, jedes Geräusch vermeidend, davon. Hin und wieder blieben sie stehen und hielten nach holländischen Posten Ausschau. Auf Umwegen, über Felder und Wiesen, erreichten sie den kleinen Sielhafen, oder sie gingen zum Strand, wo ihr Boot an abgelegener Stelle versteckt lag. Im Schutze der Nacht stießen sie leise vom Land ab und ließen sich mit dem Ebbstrom aufs Meer hinaustreiben. Erst wenn sie sicher waren, daß sie von den Wachen nicht mehr entdeckt werden konnten, setzten sie die Segel. In schneller Fahrt ging es nun aufs Meer hinaus, dem Ziel, Helgoland, entgegen. Frühmorgens erreichten sie die Insel. Sofort wurden die Geschäfte getätigt. In den großen Lagern wählten die Schmuggelfahrer die begehrten englischen Waren aus: vor allem Kaffee, Zucker, Tee, aber auch Textilien und Metallwaren. Sie prüften die Qualität und handelten um den Preis. Die Käufer bezahlten nicht immer mit barem Geld. Viele hatten Fleisch, Getreide, Butter und Käse vom Festland mitgebracht. Die englischen Händler tauschten ihre Waren gerne gegen Lebensmittel ein, denn diese wurden im eigenen Lande dringend benötigt. Einige Schiffer verhandelten mit Kaufleuten aus Bremen und Hamburg, aus Leipzig und Frankfurt am Main und übernahmen für sie den Warentransport zum Festland. Nachdem die Geschäfte abgeschlossen waren und das kostbare Gut sicher auf den Schiffen verstaut lag, nutzten die Schiffer die Zeit bis zur Abfahrt für eine kurze Erholungspause. Man traf sich in einer Gastwirtschaft mit seinen Freunden. Bei einer guten Tasse Kaffee, einem ,Koppke' Tee oder auch bei einem starken Grog aus echtem Rum mit Zucker sprach man über die Geschäfte und tauschte Erfahrungen aus. Kurz vor Sonnenuntergang verließen die vollbeladenen Schiffe die Insel, um sich auf die gefahrvolle Heimreise zu begeben. Zunächst blieben die ostfriesischen Schiffe in einer Gruppe beisammen und fuhren - oft unter dem Schutz kleiner englischer Kriegsschiffe - dem Festland entgegen. Schon weit vor den Inseln trennten sich ihre Wege. Nun mußte jeder Schiffer allein auf sich gestellt die heimatliche Küste erreichen. Aufmerksam hielt man Ausschau nach holländischen oder französischen Wachschiffen; jeder Begegnung mußte man sorgsam ausweichen. Einige Boote nahmen Kurs auf die Inseln. Die meisten segelten über das Wattenmeer zum Festland. Doch sie waren noch nicht in Sicherheit, denn auf den Deichen konnten holländische Wachen stehen. In einiger Entfernung von der Küste unterbrachen die Schiffe ihre Fahrt. Die Mannschaft wartete auf ein mit Freunden verabredetes Signal. Das kurze Aufleuchten einer brennenden Laterne war meistens das Zeichen dafür, daß an Land keine böse Überraschung zu befürchten war. Erst dann wurde die Fahrt fortgesetzt. Helfer standen bereit, um das Schiff zu entladen. Sie brachten die Schmuggelwaren schnell an Land und versteckten sie sicher vor dem Zugriff der holländischen Beamten in Dachkammern, Ställen, Ziegeleien oder im Freien, in Gruben oder im Buschwerk. Andere Schmuggler übernahmen den Weitertransport der Waren zu den Bestimmungsorten. In einer der folgenden Nächte, möglichst bei wolkenbedecktem Himmel, ging der Schmuggelzug landeinwärts. Das war nicht weniger gefährlich als die Fahrt nach Helgoland und die Landung an der Küste. Durch ganz Ostfriesand waren von Ort zu Ort die Landwege und -straßen genau vorgeschrieben, auf denen Kaufmannswaren befördert werden durften: von den Sielorten nach Aurich, Norden und Emden, von hier weiter über Leer nach Münster und ins oldenburgische Land. Jeder Transport bei Dunkelheit war verboten. Selbst in Dörfern überwachten Gendarmen und Commisen den Verkehr, um den Schmuggel ins Binnenland zu verhindern. Die Schmuggler schlossen sich oft zu Gruppen zusammen, um sich bei Gefahr besser verteidigen oder sich dem Zugriff einzelner Wachposten entziehen zu können. Kleinere Warenmengen beförderten sie auf dem Rücken. Ihr Weg führte über Gräben, über Felder und Weiden. Auf schmalen Fußsteigen schlichen sie entlang. Größere Warenmengen wurden mit Pferd und Wagen transportiert. Einige dieser Transporte gingen weit über die Grenzen Ostfrieslands hinaus. Mühsam quälten sich die Fuhrleute mit ihren schwer beladenen Wagen über abgelegene, schlechte Wege, alle Ortschaften meidend. Vor ihnen her gingen Kundschafter, die vor Gefahren warnen sollten. Im Morgengrauen rastete der Schmuggelzug bei eingeweihten Bauern oder an abgelegenen Stellen. Erst in der nächsten Nacht ging es weiter. Die Schmuggler fürchteten nicht nur holländische Beamte und Soldaten. Auch eigene Landsleute bedrohten die verbotenen Warentransporte. Sie handelten nach dem Grundsatz: "Geschmuggelte Waren zu rauben, ist kein Verbrechen!" Mancher Einheimische lauerte dem Schmuggelzug auf und verlangte als Lohn für seine Verschwiegenheit Kaffee, Tee, Zucker oder andere begehrte Waren. Die Schmuggler kauften sich los, denn sie wollten ungehindert und ohne Aufsehen ihres Weges ziehen. Hin und wieder kam es sogar zu regelrechten Raubüberfällen. So überfielen Einwohner aus Hinte und einigen Nachbarorten einen Wagentransport. Kaffeeballen wurden aufgeschnitten und der Inhalt in mitgebrachte Säcke umgeschüttet. Am nächsten Morgen sammelten Einwohner, die nicht am Überfall beteiligt waren, die Reste auf. Die Geschädigten hüteten sich, den Überfall anzuzeigen, mußten sie doch selbst mit schwersten Strafen rechnen. Nicht nur Kaufleute nahmen Schmuggelwaren ab. Auch andere, die früher nie etwas mit dem Handel zu tun gehabt hatten, kauften und verkauften jetzt verbotene Waren. Das war auch nicht ungefährlich, denn jedermann mußte immer mit Kontrollen rechnen. Die Waren wurden heimlich nur an gut bekannte Personen verkauft. Auf die Dauer blieben den Holländern die Schmuggelfahrten nicht verborgen. Deshalb erließ der König von Holland strengere Vorschriften: Kanonenboote besetzten die Emsmündungen. Immer mehr Gendarmen und Zöllner überwachten auch die kleinsten Häfen bei Tag und Nacht. Streifen auf den Deichen beobachteten die gesamte Küste. Nur Inhaber eines besonderen Passes durften auf die Inseln reisen. Wer Waren ins Land schmuggelte und mit ihnen handelte, mußte mit harten Strafen rechnen. Je nach der Schwere des Vergehens verhängte das Gericht Geldstrafen, Gefängnis, Verbannung aus dem Königreich und als schwerste Strafe die Zwangsverschickung auf eine Galeere. In jedem Falle wurden Waren und Transportmittel - Schiff, Wagen, Karren, Pferde oder andere Lasttiere - beschlagnahmt. Trotzdem fanden die Schmuggler weiterhin Mittel und Wege, verbotene Waren ins Land zu schaffen. Mit Vorsicht und List umging man die Wachen. Man fälschte Erlaubnisscheine für Küstenfahrten und Landtransporte. Gendarmen, Zöllner, selbst Offiziere der Kanonenboote konnten bestochen werden. Dorfbewohner veranstalteten Feste und Feiern, zu denen sie holländische Beamte einluden. Zur gleichen Zeit wurden Schmuggelschiffe entladen, Transporte zusammengestellt und auf den Weg gebracht. Nicht alle Schmuggelfahrten brachten Erfolg. Einige Schiffe gingen bei stürmischer See unter. Gendarmen und Zöllner beschlagnahmten manches Schiff, manches Fuhrwerk samt Ladung. Diese Fahrzeuge und Waren wurden meist umgehend für einen hohen Preis versteigert. Am 3. Juli 1809 fand in Aurich eine Versteigerung von angeblichem ~ der Insel Spiekeroog statt: 582 Ballen Kaffee
Weil das geschäftliche Wagnis so groß war, und die Maßnahmen gegen den Schmuggel immer strenger wurden, stiegen die Preise für englische Waren ständig an. Baumwolle, Stoffe, Farben, Metallwaren, besonders aber Kaffee, Tee und Zucker waren wesentlich teurer als in der Zeit vor der Kontinentalsperre. Die einheimischen Produkte kosteten dagegen wenig. So zahlte man für 1 Pfund Kaffee so viel wie für 21 Pfund Rindfleisch, für 1 Pfund einfachen Tee so viel wie für 15½ Pfund Butter. Für 1 Pfund Kandis konnte man 22 Pfund einheimisches Roggenbrot erhalten. Schmuggel und Schleichhandel milderten nicht die wirtschaftliche Not im Lande. Sie brachten aber manchem Ostfriesen hohen Gewinn. Auf diese Art von Geschäften traf das Sprichwort zu: "Wie gewonnen, so zerronnen!" Ein Mann konnte an einem Tage Tausende von Gulden gewinnen. Er konnte aber schon eine Woche später sein Schiff oder seine Waren verlieren und ein armer Mann sein. Strenge Kontrollen und schwere Strafen beenden Schmuggel und Schleichhandel Ostfriesland wurde 1810 als "Departement der Ost-Ems" eine Provinz des Kaiserreiches Frankreich. Mit den französischen Truppen rückten auch einige hundert Zöllner, "Douanen" genannt, in Ostfriesland ein. Sie lösten die holländischen Beamten ab, die nach Meinung der Franzosen die Schmuggler zu nachsichtig behandelt hatten. Im Herbst 1810 begannen Douanen und Soldaten auf Befehl des Kaisers Napoleon im Lande nach englischen Waren zu suchen. Diese sollten beschlagnamt und öffentlich verbrannt werden. Auf einer Liste waren über 100 verschiedene Artikel aufgeführt, die als englische Erzeugnisse galten. Kaffee, Tee und alle Sorten Zucker, er sei in Hüten oder lose. - Alle Sorten von sogenanntem
Manchester-Stoff. Alle Gewebe, Tücher und Stoffe, hergestellt aus
Baumwolle, Wolle,
Alle Mützenmacherwaren.
Männer- und Frauenhüte aus Filz oder Stroh. Alle Perückenmacher-
und Frisierarbeiten.
Allerhand Leder, gleich ob
gefärbt oder gegerbt. Lederfelle, dienend zum Machen von Handschuhen,
Hosen und
Allerhand feine Eisen- und
Stahlarbeit, Blech, Kupfer, Zinnarbeit, sei blank, lackiert oder bemalt.
- Uhren, goldene und
Allerlei Sorten geschlossener
oder offener Kutschen, ganz oder auch Teile von ihnen. Neue oder bereits
gebrauchte
Alle Sorten von englischer Glas- und Kristallarbeit, von Porzellan, Ton- und Töpferarbeit. - Allerlei Papier, es sei weiß,
grau, braun oder farbig bemalt. Flurtapeten und Tapezierpapier, ganz gearbeitet
oder in
Walfischtran, der nicht von Dänemark, Schweden oder Nordamerika gebracht wird. - Steinkohle. - Viele Ostfriesen wurden unruhig, denn fast jeder besaß Gegenstände, die als englische Erzeugnisse gelten konnten. Die Besitzer versteckten diese Dinge in Truhen und Schränken, auf Dachböden, in Schuppen und Ställen. Stadtbewohner schafften ihren gefährdeten Besitz auf Bauernhöfe in der Umgebung. Die Soldaten und Douanen durchsuchten streng und gründlich sämtliche Läden, viele Stadthäuser und Bauernhöfe. Sie beschlagnahmten dabei auch solche Waren, die zwar auf der Liste standen, nicht aber aus englischen, sondern aus deutschen, holländischen oder sogar französischen Fabriken stammten. Die in Emden beschlagnahmten Güter lagerten im Magazin der Kaserne und sollten am 26. Dezember 1810 verbrannt werden. Zwei Kompanien bewaffneter Soldaten standen bereit, als die Waren herausgeholt, gezählt und vom Stadtwaagemeister in Gegenwart zahlreicher Zeugen gewogen wurden. Douanen warfen alles auf vier große Wagen, die in Begleitung der Soldaten zum Stadtwall fuhren. In der Nähe des Gelben-Mühlen-Zwingers brannte bereits ein Feuer. Ballen und Pakete mit Textilien wurden aufgeschnitten, der Inhalt ins Feuer geworfen und verbrannt. Die restlichen Güter sollten am nächsten Tag um 10 Uhr verbrannt oder vernichtet werden. Trotz der strengen Bewachung der Küste durch kaiserliche Marine, Polizei, Douanen und Soldaten gab es immer noch heimliche Verbindungen nach Helgoland und mit englischen Schiffen. Deshalb wurden neue Anordnungen erlassen, die den Schmuggel endgültig unterbinden sollten: Das
Be- und Entladen der Schiffe ist bei Strafe der Beschlagnahme nur in dazu
bestimmten Häfen zwischen
Kein Schiff, es mag Segel oder Riemen führen, darf von der Küste
abgehen oder aus den Buchten der Inseln und
Die
Fischerschiffe dürfen erst mit dem Anbruch des Tages auslaufen und
müssen spätestens um ein Uhr des Nachts
Kein Fuhrwerk darf des Nachts von den Ortschaften, die an den Küsten liegen, abgehen oder daselbst ankommen. Kein
Fremder darf sich in einem Umkreis von sechs Meilen, von der Küste
an gerechnet, sehen lassen, falls er nicht
Die
Bewohner des Landes müssen, wenn sie ihren Wohnbezirk verlassen, einen
von ihrem Bürgermeister aus gestellten
Jeder, der diese strengen Befehle nicht befolgte und weiterhin schmuggelte, mußte von nun an mit der Todesstrafe rechnen. Der Reichsrnarschall Prinz von Eckmühl erließ folgenden Befehl: "In der Absicht, diesem verbrecherischen Handel ein Ende zu machen und die Urheber desselben zu bestrafen, sind folgende Maßregeln zu ergreifen: 1) Jedwede Gemeinschaft mit den Engländern auf Helgoland soll als Verrat und Spionage angesehen werden. 2) Jedwedes Fahrzeug, überführt, auf Helgoland gewesen oder von dort zurückgekommen zu sein, soll beschlagnahmt und der Kapitän des Schiffes mit dem Tode bestraft werden. 3) Die Mannschaft wird dasselbe Schicksal haben, so sie schuldig ist. Wenn nicht, so sollen alle, die zum Seedienst tauglich sind, bis Antwerpen transportiert und dort zum Dienst in der Marine übergeben werden. 4) Diejenigen, die nicht zum Seedienst tauglich sind, sollen mit drei Monaten Gefängnis bestraft werden. Groningen, den 7. März 1812" Douanen und Soldaten führten alle Anordnungen
unnachsichtig durch. Schmuggel und Handel mit verbotenen Waren lohnten
nicht den Einsatz des Lebens. Der Schleichhandel hörte auf.
Die KONTINENTALSPERRE wird AUFGEHOBEN Gleich nach Beginn der Befreiungskriege erließ Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, das Gesetz wegen der "Aufhebung des sog. Kontinentalsystems": "Nachdem Wir uns veranlaßt gefunden haben,
uns von der Allianz mit Frankreich loszusagen, finden Wir zugleich für
nöthig, hiedurch zu erklären:
Die Kontinentalsperre war damit aufgehoben, aber
Ostfriesland blieb noch eine französische Provinz. Der Schiffsverkehr
ruhte, die Seeleute waren zur Untätigkeit gezwungen oder mußten
in der französischen Marine Kriegsdienst leisten. Es verging fast
noch ein Jahr, bis ostfriesische Schiffe wieder ungehindert aufs Meer hinaussegeln
konnten.
OSTFRIESLAND - DEPARTEMENT de l'EMS ORIENTAL (1810-1813) OSTFRIESLAND wird eine PROVINZ des KAISERREICHES FRANKREICH Drei Jahre war Ostfriesland eine holländische Provinz. Anfang 1810 besetzten französische Truppen Holland. Kurze Zeit später marschierten einige Tausend französische Soldaten in Ostfriesland ein. Französische Beamte übernahmen die Verwaltung des Landes. Die holländischen Wappen wurden von den öffentlichen Gebäuden abgenommen und durch Wappen des Kaiserreiches Frankreich ersetzt. Am Geburtstag Napoleons, am 15. August, wehte zum ersten Male von allen Türmen Ostfrieslands die Trikolore. Im gleichen Jahr erließ der Kaiser ein Gesetz über die Eingliederung Ostfrieslands in das Kaiserreich. Auch andere norddeutsche Gebiete, Oldenburg, die
Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck, wurden von den Franzosen
besetzt und ebenfalls in das französische Kaiserreich einbezogen.
Napoleon befand sich auf dem Höhepüunkt seiner Macht. Sein Reich
umfaßte jetzt 130 Provinzen. Ein gutes Drittel davon hatte er erobert.
In ganz Europa lebten damals ungefähr 170 Millionen Menschen, davon
waren 80 Millionen französische Bürger.
FRANZÖSISCHE GESETZE greifen in das LEBEN der BEVÖLKERUNG ein Ostfriesland erhielt den Namen "Departement de l'Ems oriental" - "Povinz der Ost-Ems". Aurich war der Sitz des obersten französischen Beamten, des Präfekten. Die Bürgermeister hießen jetzt "Maire" und trugen französische Uniformen oder blau-weiß-rote Schärpen. Die Ostfriesen mußten alle Rechte und Pflichten eines französischen Bürgers übernehmen, denn jetzt galten die Gesetze Frankreichs auch in Ostfriesland. Während von 1807 bis 1810 das Holländische Amtssprache war, erhob nun die neue Regierung das Französische zur Amtssprache. Allen Eingaben an Verwaltungen und Gerichte, die in deutscher Sprache abgefaßt waren, mußte eine französische Übersetzung beiliegen. In den Schulen sollte französischer Sprachunterricht erteilt werden. Jetzt standen die Ostfriesen vor großen sprachlichen Schwierigkeiten. Im täglichen Umgang sprachen die Menschen miteinander plattdeutsch. In ihren Schreiben an die Behörden benutzten sie die hochdeutsche Schriftsprache. Die öffentlichen Bekanntmachungen und Gesetze erschienen in französischer, zahlreiche Zeitungsnachrichten und -anzeigen in holländischer Sprache. Die meisten Ostfriesen hatten zur damaligen Zeit noch keinen gleichbleibenden, erblichen Familiennamen. Die Kinder führten meistens den Rufnamen des Vaters als ihren Nachnamen, der von Generation zu Generation wechselte. Vater Claas Janssen dessen ältester Sohn Jann Claasen dessen ältester Sohn Claas Janssen dessen Kinder Jann Claasen Frerich Claasen Mane Claasen Onno Claasen Die Frau nahm im allgemeinen bei der Eheschließung nicht den Nachnamen ihres Mannes an. Sie behielt in der Ehe ihren Mädchennamen. So hieß z.B. die Ehefrau des Schiffers Jürgen Gerdes Bekmann aus Großefehn Antje Otten Woelf. Im Jahre 1811 verpflichtete ein kaiserliches Gesetz alle Bürger, die bisher keinen gleichbleibenden Familiennamen hatten, einen anzunehmen. Der Vater mußte den Namen auswählen und ihn beim Maire der Gemeinde anmelden. Ein solches Schriftstück ist uns aus Hage überliefert: "Vor uns Maire der Commune Hage, Cantons Berum, Arrondissement
Aurich, Departement OstEms ist erschienen Prerich Peters, wohnend in Hage,
welcher erklärte, daß er den Namen Beninga als Familien Name
und als Vornamen den von Frerich Peters annehme, daß er einen kleinen
Sohn und zwey große Töchter habe, nämlich Peter, alt vierzehn
Jahr, bey ihm zu Hause, Ette, alt zweyunddreißig Jahr, wohnend bei
ihm zu Hause und Schwaantje, alt sechs und zwanzig Jahr, zu Hage wohnend,
deren Vornamen er beibehalten wolle, und hat gegenwärtiges mit uns
unterzeichnet.
Für alle Familienmitglieder galt dieser amtlich eingetragene Name und durfte nicht abgeändert werden. Manche gewöhnten sich bald an ihren neuen Familiennamen. Bei vielen Ostfriesen stand er aber nur auf dem Papier. Sie führten ihn nicht im täglichen Leben und hielten noch lange an den alten Sitten der Namensgebung fest. Es gab noch mehr neue Bestimmungen, die in das gewohnte Leben der Familie eingriffen. Bisher wurden die Ehen nur in der Kirche geschlossen. Jetzt bestimmte ein Gesetz, daß die Brautleute zuerst vor dem Maire die Ehe schließen mußten. Vor der französischen Zeit schrieb der Pfarrer die Lebensdaten der Mitglieder seiner Kirchengemeinde in das Kirchen-buch. Jetzt mußte der Bürgermeister das Zivilstandsregister führen. In dieses Buch trug er Geburten, Heiraten und Todesfälle aller Ortsbewohner unabhängig von deren Religionszugehörigkeit ein. Als zwei Jahre später die französische Herrschaft zu Ende ging, wurde auch dieses neue Gesetz aufgehoben. In Ostfriesland galten zur damaligen Zeit andere Maße und Gewichte als heute. Es waren "natürliche Maße", deren Bezeichnung von Tätigkeiten, vom menschlichen Körper oder aus der Natur abgeleitet worden waren. Längenmaße (Emder): 1 Fuß (= 0,292 m), 1 Elle (=0,67 m), 1 Stock Torf (=2,51 m), 1 Rute (=3,504 m). Flächenmaße (Auricher): 1 Tagwerk (=2,27 a), 1 Morgen (= 25,50 a) 1 Gras (=42,50 a). Hohlmaße (Norder): 1 Krug (= 1,35 1), 1 Vatje oder Fäßchen (= 13,96 1), 1 Vierdup (=55,84 1), 1 Tonne (=223,36 1), 1 Last (=3127,704 1). Gewichte: 1 Stein (=10,29 kg), 1 Sack Mehl (=84,19 kg), 1 Roggenlast (=1,871 t), 1 Torflast (=4,2 t). Die Maße hatten nicht nur andere Namen. Ihre Größe wechselte auch zwischen den verschiedenen Städten und Gebieten. Deshalb wurde bei jedem Maß der Ort mitgenannt, in dem es galt. So gab es bei den in Ostfriesland verwendeten Gewichten je nach Ort und nach der Ware, die gewogen wurde, 14 verschiedene Pfunde:
1 Esenser Pfund
525 g
Die unterschiedlichen Maße erschwerten den
Handel. Bei jedem Preisvergleich mußten zuerst die Maße umgerechnet
werden.
================================================================= Einschub: Währungen in Ostfriesland um 1800: 1 Reichsthaler (ab 1750) = 24 Gutegroschen (Ggr) = 288 Pfennige
1 ostfriesischer Daler (= Gemeintaler):
1 ostfriesischer Gulden:
1 Gulden holländisch:
1 französischer Franc:
Die Löhne blieben das ganze Jahr hindurch nicht gleich. Sie richteten sich nach der Jahreszeit, nach der Länge des Tages. Als Existenzminimum eines Arbeiters galt um 1800 in Preußen ein jährliches Einkommen von 46 Reichsthalern, das entspricht einem Wochenlohn von rund 48 Stübern. Über den Verdienst und über die Kaufkraft des Geldes gibt die nachfolgende Aufstellung Aufschluß. Löhne:
Wochenlohn:
Jahreslohn
Preise:
Jede Stadt, jede größere Ortschaft beherbergte
zahlreiche kleine Werkstätten, in denen Waren in Handarbeit hergestellt
wurden. So gab es um 1800 in dem "Flecken" Jemgum:
Die ostfriesische Landwirtschaft lieferte um 1800 im Durchschnitt jährlich
ins Ausland:
Über Bedeutung und Umfang dieser Handelsbeziehungen
gibt der nachfolgende Bericht der "Emder Kaufmannschaft" Auskunft:
Was "Schiffsparten" kosteten:
=============================================================== OSTFRIESEN werden zum MILITÄRDIENST in der FRANZÖSISCHEN ARMEE gezwungen Als Friedrich II., König von Preußen, im Jahre 1744 von Ostfriesland Besitz ergriff, sicherte er seinen neuen Untertanen die Befreiung vom Militärdienst auf ewige Zeiten, in Krieg und Frieden, zu. In Frankreich beschloß der Nationalkonvent (1793), zur Verteidigung Frankreichs die allgemeine militärische Dienstpflicht einzuführen. Das war die Geburtsstunde des Volksheeres. Der Grundsatz: "Jeder Franzose ist Soldat und zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet" galt auch für eroberte Gebiete. So mußten die Ostfriesen ebenso wie die Franzosen Soldaten der Großen Armee werden. Die erste Aushebung von Soldaten fand in Ostfriesland im März/April 1811 statt. 228 Männer im Alter von 23 Jahren sollten Soldat werden: 152 waren für die Armee, 76 für die Marine bestimmt. Verheiratete Männer, Witwer mit Kindern, Geistliche und Körper behinderte waren vom Militärdienst befreit. Es gab 1049 wehrpflichtige junge Männer. Das Los sollte entscheiden. Derjenige, der ein Los mit einer Zahl zwischen 1 und 228 gezogen hatte, mußte sich einer besonderen Kommission vorstehen, die endgültig über seine Einberufung entschied. Doch gab es Möglichkeiten, dem Militärdienst zu entgehen. Der junge Mann konnte mit Einverständnis eines anderen sein gültiges Los gegen dessen ungültiges eintauschen. Er konnte auch einen Stellvertreter schicken. Für den Lostausch mußten 100 Francs, für den Stellvertreter 1500 bis 3000 Francs gezahlt werden. Eltern, Geschwister und Verwandte legten all ihr Geld zusammen, um einen Angehörigen freizukaufen. Aber nur wenige konnten die geforderte Summe aufbringen. Die ausgewählten 228 jungen Männer mußten sich am 8. April 1811 in Aurich einfinden. 45 von ihnen brauchten die Heimat nicht zu verlassen. Sie traten in die Garde des Präfekten ein. Die übrigen verließen zwei Tage später die Stadt. Bis zum Stadttor wurden sie von ihren Angehörigen und Freunden begleitet. Für manchen war es ein Abschied für immer. Bewacht von französischen Soldaten, marschierten die Rekruten zu ihren Regimentern nach Paris, Amsterdam und Groningen. Die Seeleute kamen nach Amsterdam und Rotterdam. Diese erste Aushebung vollzog sich ohne besondere Zwischenfälle. Als 300 Seeleute im Alter von 24 bis 49 Jahren zum Seedienst "ausgehoben" werden sollten, kam es zu Unruhen. Am 2. April 1811 versammelten sich die wehrpflichtigen Schiffer und Seeleute des Bezirks Leer in der lutherischen Kirche zu Leer. Auch bei ihnen mußte das Los entscheiden. Der Vertreter des Präfekten, ein Ostfriese, sprach die Männer in ihrer heimatlichen Mundart an und forderte sie auf, dem Gesetz zu gehorchen. Aber kaum hatte er seine Rede beendet, erhob sich zunächst unwilliges Gemurmel, dann lautes Geschrei. Obwohl den Protestierenden mit schweren Strafen gedroht wurde, schwoll der Lärm immer mehr an. Eine bewaffnete Wache besetzte die Kirchentür. Aber was sollten die wenigen Soldaten gegen die große Menschenmenge, die sich inzwischen vor der Kirche eingefunden hatte, ausrichten? Es kam zu einem Handgemenge. Ein Soldat wurde durch die Kirche geschleift und blutig geschlagen. Nur mit Mühe und Not konnte er sich in Sicherheit bringen. Die Männer in der Kirche weigerten sich, ein Los zu ziehen. Sie setzten ihren Willen jedoch nur vorübergehend durch. Einige Tage später mußte jeder sein Los ziehen, denn eine schwer bewaffnete Kompanie Soldaten stand bereit, einen neuen Aufruhr mit Gewalt zu verhindern. Eine Woche danach versammelten sich über 600 Schiffer und Seeleute aus den Bezirken Timmel, Aurich, Berum und Norden in Aurich. Auch sie waren nicht fieiwillig gekommen, sondern zur Musterung in das Auricher Schloß befohlen worden. Wen würde das Los treffen? Als erste wurden die Schiffer des Bezirks Timmel in den Schloßsaal geführt. Dort saß der Rekrutierungsrat hinter einem langen Tisch. Aber kaum hatte die Musterung begonnen, gerade war Nummer 8 an der Reihe, da wurden die versammelten Schiffer unruhig. Verstohlenes Flüstern, halblautes Geraune schwollen zu lautem Protest an. Nicht nur in Worten zeigte sich die Empörung der Schiffer. Ein Knüppel, von hinten geworfen, flog auf den Tisch, an dem die Kommission saß. Die wütende Menge drängte nach vorn. Einer schlug mit dem Prügel auf den Tisch, ein anderer läutete die von der Decke herabhängende Glocke. Ein dritter schlug mit einem dicken Stock den großen kristallenen Kronleuchter in Stücke Der Tumult wurde so stark, daß der Rekrutierungsrat aus dem Saal flüchtete. Aber der Präfekt wollte das einmal begonnene Vorhaben nicht abbrechen. Er befahl, die Musterung draußen auf dem Schloßplatz unter freiem Himmel fortzusetzen. Kaum hatte die Kommission dort Platz genommen, erhob sich der Lärm von neuem. Die Schiffer schwenkten ihre Knüppel, schirnpften, tobten, bedrängten und bedrohten einen Beamten. Selbst der Präfekt geriet in das Gedränge. Er erhielt zwei Stockhiebe in den Nacken. Um sein Leben zu retten, floh er über die an der Nordseite des Schlosses gelegene Brücke und dann weiter durch den Graben. Nun rückte französisches Militär im Sturmschritt unter Trommelwirbel zum Schloß vor. Der Tumult auf dem Schloßplatz hörte auf. Die Menge lief auseinander, der Lärm verebbte. Am Nachmittag des gleichen Tages ließ der Präfekt in der ganzen Stadt ausrufen, daß sich alle vorgeladenen Schiffer vorerst wieder nach Hause begeben sollten. Viele Männer blieben jedoch noch in Aurich. Militärstreifen wiesen sie bald aus der Stadt. Dieser Aufstand sollte nicht ungesühnt bleiben. Militär marschierte nach den Fehnen, um die Rädelsführer zu verhaften. Es kam aber nicht weit, denn auf dem Weg zwischen Timmel und Neuefehn warteten bewaffnete Fehnbewohner auf die anrückenden Soldaten. Von beiden Seiten wurde geschossen. Die Fehntjer leisteten so heftigen Widerstand, daß das Militär unverrichteter Dinge nach Aurich zurückkehren mußte. Kurze Zeit später brachen 600 Soldaten in aller Stille wieder nach den Fehnen auf. Jetzt war jeder Widerstand sinnlos. Die Teilnehmer an den Unruhen versteckten sich oder flüchteten. Die Soldaten durchsuchten die Häuser, nahmen einige Männer fest und schafften sie unter Bewachung nach Aurich. Viele Soldaten blieben in den Fehndörfern, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Am 24. Mai 1811 tagte im Auricher Schloß ein französisches Kriegsgericht. 21 Männer aus Großefehn, Boekzetelerfehn, Jheringsfehn und Moordorf wurden angeklagt, die kaiserliche Macht durch Bewaffnung, Bürgerkrieg, ungesetzlichen Gebrauch von Waffen, durch Zerstörung und Plünderung beunruhigt zu haben. Hinter verschlossenen Türen fällte das Gericht die Urteile: Focke
Friedrich Janssen aus Großefehn und Johann Friedrich Reck aus Moordorf
wurden zum Tode verurteilt.
Die beiden zum Tode Verurteilten wurden schon am nächsten Morgen auf dem Kirchdorfer Felde bei Aurich erschossen. Das Urteil mußten 2000 Exemplaren gedruckt und in allen Orten an öffentlichen Gebäuden oder Kirchen zur Abschreckung angeschlagen werden. Selbst der Kaiser erhielt einen Bericht über den Aufstand. Er ordnete noch schärfere Maßnahmen gegen die widersetzlichen Ostfriesen an: Alle Seeleute, die in den Fehndörfern des Unterbezirks Timmel wohnten, sollten ohne Ausnahme, gleich ob schuldig oder unschuldig, verhaftet werden. Des Kaisers Befehl wurde ausgeführt. Man brachte fast 300 Seeleute unter starker Bewachung nach Antwerpen. 137 von ihnen kamen von dort auf die Festung Lille, die anderen mußten in Toulon auf französischen Kriegsschiffen dienen. Auf den Fehndörfern herrschte große Not, denn die meisten arbeitsfähigen Männer waren fort. Wie groß die Armut der betroffenen Familien war, zeigt folgender Brief an den französischen Präfekten in Aurich: "Wir Unterzeichneten bezeugen hierdurch, daß
die Vorzeigerin dieses, des Schiffers Jürgen Gerdes Bekman Ehefrau,
Antje Otten Woelf, eine mit von den bedürftigsten Weibern dieses Fehnes
ist, von welchem die Männer entführet sind.
Große-Fehn, 25. Decembr
Felde Theyen Bauman, Schullehrer
Die unglücklichen Bewohner verfaßten Bittschriften an den Kaiser. Ein Jahr darauf wurden die Seeleute wieder freigelassen und kehrten nach Hause zurück. Die Ostfriesen fügten sich seitdem den Gesetzen. Bei weiteren Zwangsrekrutierungen blieb es ruhig. Einige Dienstpflichtige versuchten jedoch, sich durch die Flucht dem Militärdienst zu entziehen. Sie wurden steckbrieflich gesucht: "Dreihundert Franken Belohnung
werden demjenigen von der Gommune Esens zugesichert, welcher den Conscrit
refractair vom Jahre 1812, Lammert Janssen Mennen, dem Maire der Commune
Esens innerhalb 14 Tagen überliefert, oder auch nur solche Nachrichten
gibt, daß derselbe wieder habhaft gemacht werden kann!
Nicht nur dem Flüchtigen, auch seinen Angehörigen und seiner Gemeinde drohten Strafen. In den Familien quartierten sich französische Soldaten ein. Für die Kosten mußten entweder die Angehörigen oder die Gemeinde aufkommen. Die wirtschaftliche Not zwang manchen Vater, manche Gemeinde, den Geflohenen durch öffentliche Anzeigen aufzufordern, freiwillig zurückzukehren. "Emke Emken, Conscribirter der Classe 1812, welcher
bei der letzten Losung Nr.12 gezogen und sich nach seiner Aufforderung
bei dem Appell nicht gestellt hat, wird hiemit von seinem alten Vater dringend
aufgefordert, sich von Stund an wiederum freywillig einzustellen, damit
ich wie auch er selbst und auch sowohl die Gommune von den unglüchlichen
Folgen verschonet werden.
Insgesamt dienten 2466 Ostfriesen in der französischen Armee oder Marine. Wie viele von ihnen die Feldzüge und Schlachten Napoleons überlebten und wieder in die Heimat zurückkehrten, ist nicht bekannt. Wie sich NAPOLEONS FELDZUG nach RUßLAND auf OSTFRIESLAND auswirkte Das Jahr 1812 begann. Neue große Auseinandersetzungen in Europa bahnten sich an. In allen Teilen des Kaiserreiches wurden wiederum viele tausend Männer eingezogen, darunter auch 1131 Ostfriesen. Auf den Ostfriesischen Inseln errichteten die Franzosen Befestigungen, denn sie befürchteten eine Landung der Engländer, die mit ihren Schiffen vor der Emsmündung und den Inseln kreuzten. In den Wäldern wurden Bäume gefällt, und Bauern transportierten die Stämme auf Fuhrwerken nach den Sielorten. Von dort beförderten Schiffe das Holz auf die Inseln. Auf Borkum entstand eine Schanze. Pallisaden umgaben die Kirche von Juist, in deren Mauern Schieß scharten geschlagen wurden. Soldaten besetzten auch die anderen Inseln. Während das Leben in Ostfriesland still und friedlich verlief, begann im Juni 1812 der Marsch der "Großen Armee" in die unendlichen Weiten Rußlands. Um Unruhen in der Bevölkerung vorzubeugen, sollten die Ostfriesen auf Befehl des Präfekten alle noch vorhandenen Waffen abliefern. Nur in der Familie, im vertrauten Freundeskreis sprach man von seinen Sorgen um den Mann, den Sohn, den Bruder, den Freund, der bei der französischen Armee irgendwo in Rußland diente. Es gab keine Postverbindungen. <Doch, es gab Feldpostverbindungen! Siehe: Rolf-Dieter Wruck, Portotaxen und Stempel der GRANDE-ARMEE 1805-1813. o.O. 1995. cf. weiter unten den Brief des Grafen von Wedel!> Die Nachrichten aus dem Kaiserlichen Hauptquartier, die in der Wochenzeitung erschienen, waren meistens schon vier Wochen alt. Im Oktober berichtete die Zeitung über den Brand von Moskau. Aber erst im Dezember erfuhr die Bevölkerung von dem begonnenen Rückzug, von der großen Kälte und den schweren Mühsalen, denen die zurückflutenden Truppen ausgesetzt waren. Von der grausamen Wirklichkeit meldete die Zeitung nichts. Was sich tatsächlich in Rußland abspielte, schildert der ostfriesische Graf Carl von Wedel, der als Offizier am Feldzug gegen Rußland teilnahm. "Vielen ging die körperliche Kraft aus. Es war ein herzzerreißender Anblick, die zum Tode Müden straucheln und wankenden Schrittes wie Betrunkene taumeln, dann niederfallen und vergebliche Versuche machen zu sehen, wieder aufzustehen. Tausende und Abertausende habe ich so wanken und fallen sehen, die dann die Vor überziehenden mit herzzerreißendem Jammergeschrei um Hilfe, um Brot oder um einen Schluck Branntwein an flehten. Der einzige Liebesdienst, den man ihnen erweisen konnte, war, sie vom Wege abzuziehen und zur Seite zu legen, damit sie sicher vor den Tritten der Pferde und Menschen und den Rädern der Fuhrwerke in Ruhe sterben konnten. Aber auch dies ging nicht länger, da der Elenden zu viele waren. Man mußte sein Ohr dem Jammergeschrei verschließen. Hilfe war nicht möglich. Am 4. November wurde der bis dahin helle Himmel düster. Schwere W6lken, vom Winde schnell vorüber getrieben, entluden sich in einem wirbelnden Schneegestöber. In den nächsten Tagen fuhr es fort, abwechselnd zu schneien, und bei eisigem Nordwinde bedeckte sich die Erde fußhoch mit Schnee. Der Weg war so glatt, daß die Pferde sich nur mit Mühe aufrecht hielten. Der Verlust an diesem Tage war entsetzlich. Die Wege waren mit toten und sterbenden Menschen und Pferden bedeckt. Verlassene Kanonen, Pulver- und Bagagewagen standen in Massen. Das Jammergeschrei der Nieder gesunkenen war gräßlich, traf aber kein mitleidiges Ohr. Vielmehr wurden die Ermüdeten von den eigenen Kameraden ihrer Kleidungsstücke, ihres Geldes beraubt. Wer einen Sterbenden mit einem Stück Brot, mit einem Trunk aus der Flasche hätte retten können, tat es nicht, denn an dem Stück Brot, an dem Schluck Branntwein hing seine eigene Existenz. Wer davon weggab, gab einen Teil seines Lebens. Bei Aufbruch aus dem Biwak blieben Massen Erstarrter liegen, um die sich niemand kümmerte. Jeder eilte von ihnen weg, nur um weiterzukommen. Freundschaft, Liebe, Mitleid, Barmherzigkeit waren in den Herzen gestorben." Erst viel später gelangten Nachrichten über die Vernichtung der französischen Armee nach Ostfriesland. Der Präfekt warnte die Bevölkerung, sich gegen die französischen Behörden aufzulehnen. Aber selbst die Androhung schwerer Strafen konnte neue Unruhen in einem Teil der Provinz nicht verhindern. Nach der Eroberung Hamburgs durch russische Truppen verbreiteten sich rasch Gerüchte über deren Vormarsch. Im Oldenburgischen brach ein Aufstand los. Am 21. März 1813 rückte eine große Schar oldenburgischer Bauern in Friedeburg ein. Sie verkündeten die Befreiung von der französischen Herrschaft. Im Ort wurden die Sturmglocken geläutet, französische Wappen und Schilder zerschlagen. Die Einheimischen bewaffneten sich. Rasch breitete sich der Aufstand aus: von Friedeburg nach Reepsholt, von hier nach Leerhafe, nach Burhafe und Buttforde, von diesen Ortschaften nach Dunum, Stedesdorf und Esens. Die französischen Beamten suchten in Aurich Schutz. Der Präfekt holte Verstärkung aus Groningen heran und zog mit allen verfügbaren Truppen nach Esens und Wittmund. Bei Rispel kam es zu einem Gefecht zwischen Franzosen und Aufständischen. Fünf Bauern fanden dabei den Tod. Nach diesem bewaffneten Zusammenstoß hörten die Unruhen auf. 17 Teilnehmer an dem Aufstand kamen vor ein Kriegsgericht. Sie erhielten schwere Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Der geflohene Notar Friedrich August von Davier aus Neustadtgödens wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Napoleon hatte seine geschlagene Armee während des Rückmarsches aus Rußland im Stich gelassen. Im Dezember 1812 traf er wieder in Paris ein und begann sofort, eine neue Armee aufzubauen. Alle Provinzen des Kaiserreiches mußten insgesamt 40 000 Pferde abgeben. Davon stellte Ostfriesland allein 622 Pferde und zusätzlich noch 20 voll ausgerüstete und eingekleidete Reiter. Der Kaiser brauchte nicht nur Pferde, sondern vor allem Soldaten, 350 000 Mann. 632 Ostfriesen wurden eingezogen. Vielen von ihnen gelang jedoch die Flucht. Es gab aber auch Ostfriesen, die sich zur gleichen Zeit freiwillig zur Kaiserlichen Ehrengarde meldeten. 27 Söhne von Kaufleuten und Beamten der französischen Verwaltung bewarben sich um die Aufnahme. Einige Namen dieser Freiwilligen sind uns noch bekannt: Bezirk Emden: Cornelius Mardies, Wiard Janssen,
Althoff, Jacobus Vissering, Claas Frerichs Carstens.
------------------------------------------------------------ WORTERKLÄRUNGEN Allianz: Bündnis, Vereinigung
Quellen- und Literaturverzeichnis QUELLEN: Akten des Staatsarchivs Aurich. Akten des Stadtarchivs
Emden.
Anmerkung zu den Quellentexten Die verwendeten Quellen mußten teilweise nach schulischen Gesichtspunkten bearbeitet werden, um sie dem Verständnis der Schüler anzupassen. Zusammenfassungen oder Kürzungen waren daher notwendig. Für die Wiedergabe der Quellen wurde - mit wenigen Ausnahmen - die heutige Rechtschreibung angewandt. Literatur Andreas, W.: Das Zeitalter Napoleons und die Erhebung
der Völker. Heidelberg 1955.
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