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Das Pfarrhaus im Moor

5. Tiefgehende Eindrücke und neue Lebensanschauungen

      Die Sonntage im neuen Heimatorte haben sich meinem Gedächtnis besonders fest eingeprägt durch ihren einfachen tiefen Ernst. Der Gottesdienst wurde in der sehr beschränkten Schule abgehalten. Diese bestand aus vier Steinwänden und war inwendig durch eine Holzwand in zwei Klassen geteilt. An den Sonnabenden wurde nun diese Holzwand durch schlaue Erfindung aufgerollt und hing dann zu meinem größten Erstaunen über dem Schulpulte, das sonntags als Kanzel diente, also direkt über dem Kopf meines Mannes. Eine recht besorgniserregende Befestigung, namentlich bei den vielen Stürmen, die natürlich auch sonntags um das Schulhaus tobten und so oft Fenster und Türen erzittern ließen.

   Doch der Mensch gewöhnt sich ja an viel, so auch hier das menschliche Auge und besorgte Herz, es gewöhnte sich daran, die direkten Gefahren dieser Hängewand zu übersehen, ja, ich konnte diese Gefahr ganz vergessen, wenn ich die übervolle Schule vor mir sah, wie nicht nur alle Bänke, sondern auch die Schultische von den aufmerksam biederen Schiffern und Kolonisten mit ihren Frauen dicht besetzt waren. Hatten an den Schultagen zirka 150 Kinder in beiden Schulstuben Platz, so mußten sie sonntags oft mehr als 200 Erwachsene fassen. Wie viele treue Kirchgänger, und doch welch kleine Zahl nur gegen 1300 Seelen, die so eifrig bemüht waren, eine selbständige Gemeinde mit einer eigenen Kirche zu bilden. Wahrlich, treue, wahre Christen unter ihnen, denen man ohne viel Worte den Ernst ihrer Bemühungen ansah, die gern und freudig ihr Ja gaben, als es später hieß: 20 000 Mark aus eigenen Mitteln aufzubringen, um damit allen treuen Helfern und Förderern ihres Kirchenbaues zu zeigen: Wir sind bereit, zu opfern was wir haben, das Scherflein der Witwe als Grundstein zu legen. Und wahrlich es war für den Pastor nicht leicht, den Leuten in den meisten Fällen von dem Nötigsten zu nehmen, ihnen, die schon an und für sich recht bedürfnislos waren und sich bei gesunden Gliedern mit einem Tisch, Stuhl, Schrank und Bett als recht reich fühlten, noch so außerordentliche Opfer aufzuerlegen.

   Auch gab es noch manche im Hochmoor, die das Allernötigste nicht einmal hatten. Denke ich bloß an die arme Familie jenes Mannes, der, als es mit dem Verdienst und der Arbeit in der Stadt für seine große Familie nicht mehr ging, eines späten Abends an unsere Tür klopfte und mit seiner Frau und sieben Kindern, zu denen bald das achte kam, um Unterkommen und Arbeit bat, sie kamen an mit einem einzigen Bettstück, einem Tisch und - einer Bratpfanne. Doch sie fanden bei uns Arbeit, eine Torfhütte und gesunde Lebensbedingungen. Zwar blutsauer mußten sie sich's werden lassen, um als Torfgräber zu verdienen. Sie kamen aber weiter, diese Leute, denn sie waren fleißig und nüchtern.

   Ein fünfjähriges, nicht getauftes Kind brachten sie mit dem letztgeborenen schüchtern uns ins Haus mit der Bitte, sie beide zu taufen. Sie wollten ja einen neuen Wandel beginnen, zu dessen Anfang die Taufe der zwei gehören sollte. "Aber nicht in der Kirche die Kinder taufen, wir schämen uns unseres Versäumten." [Im Kirchenbuch lesen wir: "Hisko Bolland, * 16.2.1885, getauft 15.1.1890; Friedrich Wilhelm Bolland,* 15.4.1889, getauft 15.1.1890: Kinder des Tamme Bolland, Arbeiter zu Ostrhauderfehn und dessen Ehefrau Wobke Diers, geb. Natelberg; im Hause des Pastoren getauft, nachdem derselbe vorher die Eltern aufgesucht und ermahnt hatte, dem Kinde die Taufgnade nicht vorzuenthalten.“]

   Und, lieber Leser, es überkam mich eine hohe Begeisterung, wie ich die unter Tränen erleuchteten Augen jener Familie sah, als wir ihretwegen die Altarkerzen auf dem zum Tauftisch hergerichteten Wohnstubentisch anzündeten, ihretwegen das Kreuz unseres Herrn vor die zu taufenden Kindlein stellten, und mein Mann ein für sie passendes Trost- und Liebeswort ihnen aus der Bibel deutete. Ja, jene Blicke waren es, jene gestammelten Dankesworte in falschem Hochdeutsch waren es, die mir die keimende Ahnung zur vollen Gewißheit machte, daß es mit einem Pfarridyll, den Idealen, passend für den Geist der evangelischen Pfarrhäuser, doch ein ganz andres sein muß, als sich solch Backfischschwärmerei träumen läßt. Von Stund an standen wir in der Gemeinde, ehrlich bemüht, mit ihr zu fühlen, zu denken und zu handeln. Wie dringend nötig und oft so schwer das letztere gerade werden sollte, ahnten wir damals freilich nicht.

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