Chronik aus schrecklichen
Tagen
Das Ende des zweiten Weltkrieges in Burlage - Aus dem
Tagebuch einer Einwohnerin
Vorbemerkung:
Auf die
Aufforderung des Niedersächsischen Staatsarchivs an die Bevölkerung,
Erlebnisberichte über die letzten Kriegstage zu schreiben, die später als
Quellen-material dienen und den Ausgangspunkt für die Anlage von Dorfchroniken
aus unserer Zeit bilden können, hat bisher kaum ein halbes Tausend Personen
reagiert. Es mögen auch, vor allem auf den Dörfern, in jenen turbulanten Tagen
nicht viele dazu gekommen sein, irgendwelche Aufzeichnungen zu machen, die als
stichhaltige Grundlage dafür dienen könnten. Eine Einwohnerin von Burlage aber
hat damals ein regelrechtes Tagebuch geführt, dessen teilweise sehr
interessanter Inhalt wir im folgenden auszugsweise wiedergeben.
Aus dem Tagebuch:
Frühjahr
1945. Wir hatten nun schon im sechsten Jahre Krieg. Wir alle sehnten uns nach
Frieden. Was hatte uns der Krieg auch für Leid gebracht! Tag hatte sich an Tag,
Woche an Woche, Monat an Monat gereiht. Nun waren es Jahre geworden, und es war,
als müßte es immer so weiter gehen.
Da fiel in
das Dunkel der Gleichmäßigkeit eine große Veränderung. Waren schon in den
letzten Monaten die Fronten immer näher an Deutschlands Grenzen gerückt, so
verliefen sie jetzt auf deutschem Boden. Im Osten und Westen drangen die
Alliierten täglich tiefer in Deutschland ein. Nun waren die Würfel gefallen.
Der Krieg würde dann beendet sein, wenn Deutschland von den Alliierten besetzt
sein würde. Indes waren wir uns bewußt, daß es ein Ende mit Schrecken geben
und uns noch Schweres bevorstehen würde. Jedoch einmal mußte das Ende ja
kommen, je schneller, desto besser. Wir ahnten freilich nicht, was alles uns noch bevorstand.
April 1945
war die Front bis auf einhundert Kilometer an uns herangerückt. Das Schießen
war jetzt schon deutlicher zu hören. Über Alt- und Neuburlage und der nächsten
Umgebung kreisten dauernd die Flieger. Da wurde es uns klar: Auch in Burlage würde
der Feind einziehen. Aber in so einem Dörflein wie Burlage wird es wohl
friedlich abgehen - glaubten wir. Jedoch es sollte anders kommen.
Als erste
Boten, die uns kündeten, daß es Ernst würde, kamen zu uns viele
kriegsgefangene Franzosen. Sie wurden aus frontnahen Gebieten weggeschafft und
kamen in großen Kolonnen in Burlage an. Auf den Bauerndielen wurden sie
einquartiert. Es hieß, sie sollten gleich weitergeführt werden, aber
stattdessen kamen immer mehr. Selbst Russen gesellten sich noch hinzu. Die
Gefangenen hatten Verlangen nach Kartoffeln, um ihren Hunger zu stillen. Glücklicherweise
waren wir mit Kartoffeln reichlich versorgt.
Nach zwei
Tagen mußten die Franzosen nun doch weiterziehen, obschon sie gerne geblieben wären.
Heimlich trugen sie die weißen Fahnen schon bei sich. Nun konnten wir wieder
frei atmen! Welch ein Erstaunen, als am nächsten Abend alle wieder da waren.
Nirgends hatten sie ein Obdach gefunden. Die Ordnung war zum größten Teil
verloren gegangen. Für Verpflegung wurde behördlicherseits nicht mehr gesorgt.
Aber weil Burlage sie nun einmal aufgenommen hatte, mußte man eben mit ihnen
fertig werden, obgleich noch immer neue hinzukamen. Wir selbst hätten von
unserem Hause nichts mehr. Diele und sämtliche sechs Räume waren übervoll
belegt.
Der
Volkssturm befand sich dauernd Im Alarmzustand. Viele Männer von denen, die
noch da waren, mußten schanzen, Panzersperren bauen, Splittergräben herstellen
usw. Die Brücke in Altburlage wurde mit Sprengkörpern unterlegt, und war
dauernd mit Posten besetzt. So wurde das Leben immer angstvoller. Täglich kamen
neue Parolen heraus und
unkonitrollierbare Gerüchte schossen wie Pilze aus der Erde.
Endlich
schaffte der Bürgermeister In der Gefangenen-Angelegenheit Rat, Es war für
Burlage unmöglich geworden, die französischen Gefangenen zu ernähren. Die
zuerst gekommenen 300 Mann wurden auf das ganze Dorf verteilt, alle übrigen mußten
endgültig abgeführt werden.
Am 10.
April 1945 begann ein neues Stadium. Die Front war bedeutend näher gekommen.
Die etwa 10 Kilometer entfernten KZ-Lager Esterwegen und Börgermoor wurden geöffnet.
Heraus strömten die verkommenen und zerlumpten Häftlinge. Sie wurden an
unserem Hause vorbeigeführt. Trotz strengen Verbots liefen mehrere Häftlinge
aus der Reihe, klopften an Fenster und Türen und baten um Wasser und Brot. Sie
waren vollständig ausgehungert. In den nächsten Tagen nach dem Vorbeizug
gingen Patroullien, um die vom Zuge abgekommenen ??leute aufzustöbern.
Am 14. April 1945 morgens begannen wir unsere Arbeit. Dabei
fanden wir in unserer Scheune im Stroh einen Mann, der sich in eine Decke eingehüllt
hatte. Man konnte kein Lebenszeichen an ihm wahrnehmen. Auf wiederholtes Rufen
regte sich etwas unter der Decke, ein vollständig abgemagerter KZ-Häftling kam
zum Vorschein. Wir stellten ihm ein paar Fragen, worauf er uns erzählte, wie es
ihm ergangen sei. Wegen Abhörens feindlicher Sender war er in das KZ-Lager
gekommen. Mit seinen Kräften war er soweit, daß er fast nicht mehr stehen
konnte. Dazu war er noch krank an leichter Lungenentzündung. Das Sprechen fiel
ihm schwer.
Weil er
nicht fortgehen wollte, machten wir mit ihm aus, falls er gefunden würde, solle
er nicht verraten, daß wir von ihm wußten. Das versprach er uns fest.
Wir
gingen, so gut wir konnten, unserer Arbeit nach. Wenn der Volkssturm Vater auch
oftmals aus der Arbeit rief, etwas konnten wir doch schaffen. Um die Mittagszeit
dieses Tages, wir erschraken fürchterlich, erschien die Polizei, um für die
Wehrmacht Fahrräder zu beschlagnahmen. Für alle Fälle hatten wir sie aber im
Felde versteckt.
Der nächste
Tag verlief ohne besondere Ereignisse. Wir rechneten damit, daß die Engländer
bald hier sein würden, denn sie standen schon am Küstenkanal und neun
Kilometer war doch nicht mehr weit. Es lag wie ein schweres Gewitter in der
Luft, von dem man noch nicht weiß, wie es ausläuft. Wir packten daher unser Nötigstes
in Koffer, falls wir noch flüchten mußten. Ein schrecklicher Gedanke, jedoch
konnten wir nicht ausweichen.
Nun war
der 14. April l945 herangerückt. Unseren Scheunenbewohner verpflegten wir so
gut wie eben möglich. Dabei erzählte er uns, die "Blauen"
(Wachleute) müßten noch immer auf der Suche nach vermißten Gefangenen sein.
Die letzte Nacht seien sie sogar zwischen den Häusern gegangen. Er hätte sie
zusammen sprechen gehört. Ludwig blieb des Nachts immer wach, damit er sich im
Schlaf nicht durch ein Geräusch verraten konnte.
Am 15. April
1945. Es war Sonntag. Die Spannung steigerte sich immer mehr. Der Feind lag
immer noch jenseits des Kanals. War der Vormarsch zum Stehen gekommen?
Jedenfalls verzögerte er sich und jetzt hatte die deutsche Wehrmacht Zeit, sich
zu sammeln und neu zu formieren. Neuburlage war von unseren Truppen besetzt. Auf
der Straße marschierten wieder deutsche Truppen in Richtung Front. Jetzt wurde
es klar, daß man diese bedeutungslose Gegend noch verteidigen wollte.
Für
uns wurde es immer kritischer. Wir berieten darüber, was wir im Falle eines
Beschusses machen wollten. Wo finden wir Schutz? Wir und viele andere kamen zu
dem Entschluß, nach dem weit abseits gelegenen Klostermoor zu flüchten. Die
Pferde mußten auf die Weide gebracht werden,denn es bestand ja die furchtbare Möglichkeit,
daß die Häuser in Brand geschossen würden.
So machten
wir uns Gedanken und Pläne darüber, wie wir uns gegebenenfalls zu verhalten
hatten. Um die Mittagszeit aber gab es einen Knall. Zur Probe hatte man die
kleine Holzbrücke am Denkmalsweg in die Luft gesprengt. Das war so gut
gelungen, daß noch Fensterscheiben in der Nähe zertrümmert wurden. Am
Nachmittag wurde es noch schönes Sommerwetter; trotzdem zeigten sich die Leute
sehr bedrückt. Auf die noch im Besitz befindlichen Raucherkarten wurde Tabak
ausgegeben. Wir unterhielten uns noch etwas mit Ludwig, der oben im
Scheunenstroh ein nicht gerade angenehmes Dasein führen mußte. Immerhin war er
dennoch froh, so ein sicheres Versteck zu haben. Als wir beim Abendessen waren,
sahen wir die ersten Feindsoldaten. Es waren drei Gefangene, die in Esterwegen
gemacht worden waren und von deutschen Soldaten abgeführt wurden. Vielleicht
sind morgen früh auch schon die ersten Panzer der Engländer da, dachten wir.
Am 16. April
1945. Im Morgengrauen klopfte es ans Fenster. Vater machte auf und draußen
standen viele deutsche Soldaten, die Quartier haben wollten. Davon bekamen wir
acht Mann und zehn Pferde. Man sagte uns, es sei nur für zwei Tage. Die
Disziplin war vollständig verloren gegangen. Das ganze Haus wurde in Anspruch
genommen.
Am 18. April
waren die zwei Tage herum, aber abgerückt wurde nicht, die Soldaten blieben. Es
war ja auch kein Wunder. Es waren alles junge Menschen ohne jegliche Führung,
sie waren sich selbst überlassen und keiner hielt mehr auf Ordnung und
Disziplin. Auch außerhalb des Hauses wurde es immer unsicherer. Die Tiefflieger
schossen auf Menschen und Vieh, und somit durfte sich kaum jemand auf der Straße
oder auf dem Felde sehen lassen. Auf halbem Wege zum Friedhof wurde ein
Leichenzug von den Tieffliegern angegriffen. Die Leute des Leichenzuges sprangen
blitzschnell auseinander. und versteckten sich hinter Wällen und Büschen. Die
Tiefflieger gaben mehrere Salven ab. Wie ein Wunder war es, daß keiner zu Tode
gekommen noch verletzt war.
Am 19. April.
Plötzlich war die Straße wieder von KZ-Gefangenen voll. Wir schauten
verwundert auf, da sie ohne jegliche Regleitung und Bewachung waren. Wie war so
etwas möglich? Weil die Feinde uns im weiteren Umkreis von allen Seiten
eingeschlossen hatten, wußte man zuletzt nicht mehr wohin mit diesen vielen
Menschen. Nach langem Hin und Her gab es keinen anderen Ausweg, als sie
freizulassen. Sie sollten sich sofort beim Wehrmeldeamt melden, um noch in
letzter Minute Soldat zu werden! Da hiervon natürlich keine Rede sein konnte,
irrten sie ziellos umher. Außerdem wurde die Straße noch von vielen anderen
belebt. Flüchtlinge, Holländer usw., hatten ihre Arbeitsplätze verlassen und
schlossen sich in Gruppen zusammen, um zu beraten, wie sie wohl am schnellsten
in ihre Heimat kommen könnten. Daß sie zunächst zusammen in ein Lager kommen
würden, dar-an hatten sie wohl nicht gedacht.
Am 20. April
1945. Wir glaubten nun von einem Tag zum anderen, es müßte doch bald eine
Entspannung kommen, denn so könne es doch unmöglich weitergehen. Die bei uns
noch immer einquartierten Soldaten benahmen sich so nach und nach etwas ruhiger
und fühlten sich ganz wohl. Es wurde gesungen und musiziert bis in den. späten
Abend hinein. Sie sprachen uns guten Mut zu. Hier würde nichts passieren. Aber
vorsichtshalber packten wir doch die nötigsten Kleidungsstücke zusammen und
brachten sie in den Keller, welcher feuersicher war. Mehrere wichtige Sachen
haben wir jedoch in die Erde vergraben. In später Stunde erschien noch unser
Nachbar. Gerade an seinem Geburtstage hatte Hitler gesagt, "Berlin bleibt
deutsch, Wien wird wieder deutsch und Europa nie russisch!" In seinem
angeheiterten Zustande wiederholte der Nachbar dies immer wieder. Wir hatten
unseren herzlichen Spaß daran.
Am 21. April
1945. Es war bekannt geworden, daß die Engländer Papenburg besetzt hatten.
Also konnten sie jeden Tag auch in Burlage einrücken. Es erzählte der eine
dies und der andere jenes; man wußte nie so recht, was Wahres daran war. In
dieser Atmosphäre lebten wir nun schon vierzehn Tage. Plötzlich kam der
Volkssturm wieder zu Wort. Befehl: Von Ostrhauderfehn Soldbücher, Schnaps,
Zigaretten und Gewehre abholen und verteilen. Das. war eine Sache, die nicht
schmeckte. Den Schnaps und die Zigaretten mochten die Volksstürmer schon haben,
aber auf die Soldbücher und Gewehre wollten sie lieber verzichten. Von den Zugführern
wurde die Angelegenheit ein paar Tage hinausgeschoben.
Plötzlich
hieß es auch für die Soldaten Stellungswechsel! Das bedeutete also, sie mußten
uns verlassen. Wir hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet. Dieser
Stellungswechsel war für uns aber ein Beweis, daß die Truppen neu gegliedert
und der Kampf neu einsetzen würde. Obwohl die Soldaten noch gerne bleiben
wollten, mußten sie doch fort. Sie spannten die Pferde an, packten ihre Sachen
schnell zusammen und los ging es nach einem kurzen Abschiedsgruß. Kaum auf der
Straße angekommen, wurde der Befehl abgeblasen. Also blieben sie erst wieder.
Am 22. April
1945. Trotz allen Durcheinanders rafften wir uns des Morgens auf, damit einige
von uns zur Kirche gehen konnten. In der Kirche waren nur wenige Menschen, was
uns fast unheimlich vorkam. Überall herrschte beklommene Stille. Man sprach von
erhöhter Gefahr. Wir waren doch froh, als wir wieder glücklich zu Hause waren.
Inzwischen marschierten mehrere Kolonnen Infanterie an unserem Hause vorbei. Sie
kamen von Papenburg und zogen eich vor dem Feinde zurück. Die Sonne schien,
aber die warmen, freundlichen Strahlen konnten die trübe Stimmung nicht
verjagen. Immer schwerer lastete die Ungewißheit auf ganz Burlage: Was werden
die nächsten Stunden uns bringen?
Es hieß, die
Engländer seien über den Kanal gekommen. Unsere Soldaten, die noch bei uns
einquartiert waren, erhielten nun den endgültigen Befehl zum Abzug. Das
Sprengkommando bei der Brücke blieb. Ein Radfahrer war außer Atem. Soeben war
er noch herübergekommen; die Brücke konnte jeden Augenblick in die Luft
fliegen. Jetzt war die Stunde gekommen, der wir schon so lange , mit Bangen und
Sorgen entgegengesehen hatten. Es wurde bitter ernst.
Wir schauten
uns um: Schon sahen wir in einiger Entfernung Rauch und schwarzen Qualm von
brennenden Häusern aufsteigen. Die Landstraße war menschenleer. Was sollten
wir machen? Wir mußten doch damit rechnen, daß unsere Häuser auch bald
brennen würden. Endlich traf unser Vater einen Mann, der mit Bestimmtheit
aussagte, die Panzer seien in Neuburlage, nur mehr drei bis vier Kilometer
entfernt. Nun gab es kein Zaudern mehr; wir mußten handeln.
Ursprünglich
wollten wir ins Klostermoor flüchten. Weil aber inzwischen der Weg dorthin mit
deutschen Soldaten besetzt war, konnten wir nicht mehr dorthin gehen, da wir
damit rechnen mußten, zwischen kämp-Eende Truppen zu geraten. Wir
entschlossen, uns, schnell nach der anderen Seite ins Moor zu flüchten. Vater
erkundigte sich, ob uns dies möglich war. Meine Schwester und, ich packten das
Nötige zusammen und brachten es in den Keller. Unsere Mutter konnte die Tränen
nicht mehr zurückhalten. Wir trösteten sie so gut, wie wir konnten. Vater kam
zurück. Schnell, schnell mußte es gehen. Kühe und Jungvieh wurden auf die
Weide getrieben; Schweine und Kälber ließen wir auf gut Glück im Stall. Die
wichtigsten Sachen an Kleidung, Lebensmitteln und Betten wurden auf einen
Ackerwagen verstaut und dann ging es im Galopp davon, um noch über die Brücke
zu kommen. Ich allein blieb zurück.
Einige
Stunden später kam auch Vater zurück. Er hatte mit Mutter verabredet, daß
Vater und ich unser Haus bewachen sollen, aber nach langem Hin und Her kamen wir
schließlich doch zu dem Entschluß, unser Haus zu verlassen. Denn, wenn es
abbrennen sollte, konnten wir doch nichts daran an" dem. In der guten
Hoffnung, unser Haus noch einmal wieder zu sehen, zogen wir ab. Wir setzten an
geeigneter Stelle mit Hilfe von langen Planken über den Kanal, obwohl die Brücke
noch nicht gesprengt war. Wir wagten nicht mehr, sie zu benutzen. Dann hatten
wir uns alle zusammengefunden.
Nach dem
allzu hastigen Nachmittag kamen wir ein wenig zur Ruhe. Die Lage wurde hin und
wieder besprochen. Wir rechneten damit, der Feind würde die Straße zum
Vormarsch benutzen und hatten uns darum zu unserem Onkel am Freitagsweg begeben.
Wir glaubten, von hier aus den Vormarsch beobachten zu können. Es wird schon
alles gut gehen, sprachen wir uns gegenseitig Mut zu. Es begann dunkel zu werden
und jeder bemühte sich, ein Ruheplätzcen für die Nacht zu finden. Um
Mitternacht schreckte uns ein nahes Dröhnen auf, es wiederholte sich noch
einmal und dann wußten wir, daß die für uns so wertvolle Brücke gesprengt
worden war.
23. April
1945. Gegen Morgen war alles wieder still. In Todesangst warteten wir auf
schreckliche Dinge, die jeden Augenblick eintreten konnten. Da, plötzlich
traten drei Landser herein, die uns auf Befragen mitteilten - sie kamen direkt
von der Front - daß in Neuburlage mehrere Häuser abgebrannt seien,
wahrscheinlich weil deutsche Soldaten sich von den Häusern aus verteidigt
hatten. Diese Mitteilung machte ängstlich und betrübt. Wir hatten aber noch
Zeit, uns auf den Weg zu machen, um schnell die Kühe zu melken. Die Milch wurde
den Kälbern und Schweinen eingegossen und dann ging es wieder querfeldein in
Richlung Freitagsweg. Vorher hatten wir noch einige Worte mit unserem Gefangenen
gesprochen. Er fühlte sich so gut wie frei und wollte nicht; mit uns gehen.
Inzwischen war es neun Uhr geworden und wir waren heilfroh, die Arbeit erst mal
wieder hinter uns zu haben.
Vereinzelt hörten
wir MG-Feuer, dazwischen Panzerschüsse. Hin und wieder gingen wir nach draußen,
Schon sahen wir dicke Qualmwolken hochsteigen, welche Häuser brannten, ließ
sich nicht feststellen. Unwillkürlich richteten sich unsere Blicke nach unserem
Hause, wir konnten es soeben durch die Büsche schimmern sehen. Wir rechneten
jeden Augenblick damit, daß das Schlimmste eintreten würde. Etwa um zehn Uhr
gab unser Vater Alarmrufe; "Wir liegen schon unter Beschuß! Geschosse
schlagen hier auf nahe Entfernung ein!" Verflogen waren Angst und Sorge um
das Haus. Nun hieß es, das nackte Leben retten. Jeder nahm sein Bündel und
eilte davon.
Oben im Moor
fanden wir uns wieder. Viele Menschen waren hier zusammen gelaufen. In einer
halben Stunde war ein Flüchtlingslager entstanden. Jeder bemühte sich, seine
Deckung zu verbessern. Am schlimmsten waren die Mütter mit ihren Kindern dran;
man schrie um Hilfe, man betete. Die anwesenden Franzosen leisteten gute
Schipparbeit.
Mit einem
Schlag setzte heftiger Beschuß ein. Im Nu lag alles m Deckung und jeder steckte
seine Nase so tief wie möglich in die Erde. Das waren böse Stunden, die wir so
verbringen mußten, in großer Not und Angst. Hier bewahrheitete sich das
Sprichwort wieder: "Not lehrt beten". Plötzlich hieß es:
"Panzer! Panzer!"
Ungläubig
warfen wir einen Blick nach vorne und - wahrhaftig - einige hundert Meter vor
uns standen die ersten Panzer. Nun durften wir auf baldige Erlösung aus unserer
schlimmen Lage hoffen. Wir legten uns wieder flach hin und warteten auf die
kommenden Ereignisse. Da brausten zu allem Unglück auch noch Tiefflieger heran.
Viele riefen: "Jetzt sind wir verloren!" Aber die Flugzeuge flogen in
mäßiger Geschwindigkeit an uns vorbei. Allmählich flaute der Beschuß ab. Wir
schauten auf und sahen rings um uns brennende Häuser! Die ganze Luft schwarz
von Rauch. Wir atmeten dennoch erleichtert auf. Die ersten Panzer waren an uns
vorbei. Eine endlose Kette von Panzern, Meldefahrern und sonst uns unbekannten
Fahrzeugen folgte.
Dann lief
eine Meldung ein: Jeder sollte mit einem weißen Tuch oder Papier in der Hand in
sein Haus gehen, sonst würde man als Militärperson angesehen. Plötzlich wurde
es im ganzen Lager lebendig. Die mit uns ins Moor geflüchteten Franzosen liefen
sofort auf die Panzer zu. Die anderen zogen in großer Angst hinterher und kamen
dann bald mit den Feindsoldaten zusammen. Alles schaute; es waren polnische
Soldaten! Mit dem Gewehr in der Hand schimpften sie auf Hitler und die Nazis.
Dabei blieb es Gottseidank, sie taten uns nichts. Onkel hatte noch Schnaps
stehen und schenkte ihnen davon ein. Dies machte einen guten Eindruck auf die
Soldaten. Unsere Aufregung verlor sich so nach und nach. Alles sollte nach Hause
gehen und niemand durfte in den nächsten vierundzwanzig Stunden das Haus
verlassen. Inzwischen war es fünf Uhr nachmittags geworden. Das war ein böser
Tag gewesen und wir fanden nun wieder Gelegenheit, kurz Umschau zu halten, ob
unser Haus noch stand. Nachdem wir festgestellt hatten, daß der Schornstein
noch zu sehen war, konnten wir wieder hoffen. Wir kamen näher und bald sahen
wir, daß es tatsächlich stand. Unbeschreiblich groß war unsere Freude!
Bald wurde
uns aber wieder traurig zumute. Wir sahen die abgebrannten Häuser unserer
Nachbarn. Wie schrecklich! Nur noch geschwärzte Mauerteile standen, sonst war
alles ein Raub der Flammen geworden. Die einst so glücklichen Hausbewohner
standen weinend an diesen Brandstätten, hier und da noch verbrannte Tierleiber,
das war alles. Als wir schließlich unseren Hof erreicht hatten, stellten wir
fest, daß unser Haus einen Volltreffer erhalten hatte, der einen Balken
durchschlagen, aber einen weiteren Schaden nicht angerichtet hatte. Ebenso hatte
die Viehscheune, die nur etwa zehn Meter vom Hause entfernt steht, einen Treffer
erhalten, der jedoch nicht zur Explosion gekommen war. Es erschien nun wie ein
Wunder, daß das Stroh, das reichlich vorhanden war, nicht Feuer gefangen hatte.
Im Wohnhause
lag alles kunterbunt durcheinander. Die durchziehenden Infanteristen hatten
alles durchgewühlt. Schubladen usw. lagen auf dem Boden. Mehrere Sachen
fehlten. Man hatte sich nie vorstellen können, daß es solche Menschen geben
konnte, die alles mitnehmen oder zertreten. Nachdem wir nach und nach wieder
etwas aufgeräumt hatten, sahen wir uns nach dem Vieh um. Die Tiere waren gut
durchgekommen, nur ein Rind hatte einen Geschoßsplitter in den Rücken
erhalten, hellte aber schnell. Endlich konnten wir das Vieh wieder In die
Scheune holen, dies war notwendig, da es nachts noch sehr kalt war. Jetzt erst
fand unser Gefangener sich wieder ein. Ludwig hatte Reißaus genommen, als die
Sache brenzlich geworden war. Gleich darauf, als er sein Lager verlassen hatte,
war die Granate an derselben Stelle eingeschlagen, wo er gelegen hatte. Da hatte
er aber Glück gehabt!
Allmählich
fing es an zu dunkeln. Vater machte sich auf, um Familie L. aufzusuchen, die nun
kein Dach über dem Kopfe hatte. Er hatte die beiden Alten mitgebracht. Wir
suchten sie zu trösten, aber vergebens: sie weinten und konnten ihre Tränen
nicht zurückhalten. Es war ein erschütternder Anblick, den wir nie vergessen können.
In ihrer Verzweiflung gingen sie wieder zu ihrem abgebrannten Hause zurück,
obwohl sie dort kein Ruheplätzchen mehr finden konnten. Alles Bitten und
Flehen, sie möchten doch bleiben, es ließe sich augenblicklich doch nichts ändern,
nützte nichts; sie konnten es nicht fassen, sie gingen. Das war ein schwarzer
Tag für Burlage! Der Feind hatte Alt- und Neuburlage besetzt. Die Panzer
standen kaum einige Kilometer entfernt.
Der Tag hatte
sich geneigt und es wurde dunkel. Müde von der übermäßigen und
unbeschreiblichen Aufregung legten wir uns schlafen. Nach kaum zwei Stunden
klopfte es hart ans Fenster. Vater stand auf. Fremde Soldaten In großer Zahl
standen draußen und verlangten Quartier für die Nacht. Für die Offiziere mußten
wir die Betten hergeben, während die übrigen sich in Heu und Stroh lagerten.
Auch verlangten sie 40 bis 50 Liter Milch.Da die Milch an die Molkeret nicht
geliefert werden konnte, war genügend vorhanden. Hierfür zeigten sie sich doch
erkenntlich Und gaben uns etwa zwölf Pfund Zucker. Unser Ludwig hatte sich
angeschlossen und wurde besonders gut betreut. Sogar Schokolade wurde ihm
verabreicht. Am anderen Vormittag zogen sie weiter.
Nun
waren wir mal wieder unter uns. Die neuen Gesetze waren schon angeschlagen
worden. Der erste Satz lautete: "Wir kommen als ein siegreiches Heer,
jedoch nicht als Unterdrücker."
Die ersten
Tage durften nur Frauen für bestimmte zwei Stunden aus dem Hause gehen.
Immerhin fühlten wir uns etwas freier, da wir nicht mehr in der erdrückenden
Ungewißheit von vorher schwebten. So glaubten wir, das Schlimmste überstanden
zu haben. Aber es kam ganz anders.
Noch am
selben Nachmittag wurde unser Haus und die nächste Umgebung von polnischen
Soldaten überfallen. Sie kamen mit einer großen Anzahl Autos und vernichteten
rücksichtslos unsere landwirtschaftlichen Geräte, wie Eggen, Pflüge, Wagen
usw, die hinter dem Hause standen. Auch uns gegenüber waren sie rücksichtslos.
Sofort wurden wir angewiesen, für sie zu waschen, zu bügeln, zu putzen und
dergleichen mehr. Sie verlangten alles in Befehlsform. Im übrigen bestand die
Unterhaltung aus gehässigen Bemerkungen über die Deutschen. Nur einer von
ihnen war freundlich und gut. Wir konnten uns mit ihm vertraulich unterhalten.
Abends konnten wir das Vieh nicht heimholen, obwohl es sehr kalt war. Es war
alles so dicht besetzt, wir konnten einfach nicht durchkommen. Und nun wurde es
Nacht in Unruhe und Angst ...
25. April
1945. Morgens war es noch wie abends zuvor. Unser Ludwig hatte sich mit dem
freundlicher gesinnten Polen gut unterhalten, der uns denn auch erzählte, in
Langholt sei von deutschen Zivilisten in der letzten Nacht ein englischer Panzer
abgeschossen worden. Solch eine Tat würde schwer bestraft und nicht geduldet.
Zunächst glaubten wir nicht daran, freuten uns jedoch, daß es nicht in Burlage
passiert war. In der Mittagszeit wurden wir alle als In der Nähe wohnende Leute
zur gesprengten Brücke befohlen. Das Militär wollte die Brücke benutzen. Es
wurde uns angedroht, falls die Brücke nicht in einer halben Stunde passierbar
sei, würde das ganze Dorf In Brand geschossen. Alles stürzte mit Spaten,
Bellen und Karren zur Brücke. Der polnische Kommandant wollte absolut wissen,
wer die Sprengung durchgeführt hätte. Die Volkssturmmänner wurden verhört.
Da sie aber keine Waffen gehabt hatten, erfolgte zum Glück Freispruch. So
verlief dieser Tag in Aufregung und Angst. Zum Überfluß hatte sich noch ein
schwerer Lastwagen auf unsere Diele gestellt. Das ganze Haus roch nach Benzin.
In großer Angst mußten wir jeden Augenblick Brand erwarten, zumal mit Streichhölzern
und Zigaretten sehr leichtsinnig umgegangen wurde, denn es lag viel Stroh umher.
Es ging gut.
26.
April 1945. Als wir kurze Zeit aufgestanden waren, sah man neben der Hecke, in
der Höhe unseres Hauses im nassen Gras einen polnischen Soldaten liegen, in
eine Decke gehüllt, scheinbar schlafend. Es kam uns sonderbar vor. Es war doch
noch empfindlich kalt des Nachts! Warum hat er sich nicht zu den anderen ins
Haus gelegt? Wir erkundigten uns bei dem Polen, der uns freundlich gesinnt war.
Er gab uns die Antwort, daß es ein Toter sei, der von deutschen Zivilisten in
der Nacht heimtückisch erschossen worden sei. Als Strafe dafür würden zwanzig
Männer im Umkreise erschossen oder das Dorf würde in Brand geschossen werden,
wenn bis Mittag nicht bekannt wäre, wer der Täter sei. So hätten es die
Deutschen auch in Polen gemacht, sagte man uns Wir waren vollständig ratlos,
alle ließen den Mut sinken. Unsere Mutter jammerte.
Schlimm genug, wenn wir unser Haus verlieren würden, aber tausendmal
besser als unseren Vater! Fürchterlich! Sollte das nun das Ende sein, nachdem
wir schon so unbeschreiblich viel überstanden hatten? Vater gehörte bestimmt
zu den Todgeweihten, war doch das Unglück bei unserem Hause festgestellt
worden. Die Mutter lag fast ohnmächtig im Bett.
Der
Kommandant ließ den Bürgermeister rufen und gab ihm Befehl, in zehn Minuten
die Liste der Parteigenossen und Volkssturmmänner zu beschaffen. Der Bürgermeister
stand bei uns in der Küche, Auch er war mit seinen Nerven fertig. Die Polen
brachten drei deutsche Zivilisten herein. Sie rasselten mit ihren Waffen, als
wenn sie gleich schießen wollten. Die Deutschen mußten sich auf die Erde
setzen - dann erfuhren wir, daß es sich um drei deutsche Soldaten handelte, die
sich in Zivil gekleidet hatten und verstecken wollten. Nun wurden sie gefangen
genommen.
Für uns
waren es entsetzliche Stunden. Was wird werden, was kommt? Nach einiger Zeit
erfuhren wir endlich wie alles gekommen war: Einige SS-Männer hatten auf dem
noch unbesetzten Moorgut Ramsloh über ihre Uniform Zivilkleider angezogen, sich
zwei polnische Soldaten herangeschlichen und mit Schußwaffen angegriffen. Dabei
war der eine Pole zu Tode gekommen, ebenso zwei der Angreifer. Ein zweiter Pole
war verwundet worden, hatte aber noch schnell seinen toten Kameraden ins Auto
nehmen können und ihn hierher gebracht. Dafür hatten Wir die schrecklichen
Stunden ausgestanden! Wäre das alles nicht rechtzeitig geklärt worden, so wäre
man zu der angekündigten Bestrafung geschritten. Immerhin wurden noch zwei Häuser,
wo sich das Gefecht abgespielt hatte, abgebrannt.
Die große
Furcht, die sich am Vormittag so erdrückend auf uns gelegt hatte, konnten wir
nicht so schnell abschütteln. Besonders lange dachten wir an die kommende
Nacht. Wenn dann wieder so etwas vorkam, wie in der vorhergehenden? Wir hofften
und wünschten, die fremden Soldaten möchten uns doch recht bald wieder
verlassen. Doch unser Wunsch erfüllte sich nicht.
Unvergeßlich
bleibt uns der 26. April 1945, als ein Tag voll schauriger Erinnerungen, der als
solcher den Montag, an dem die Front
über uns hinwegrollte, noch weit übertraf.
Der 27. April
1945 verlief ohne besondere Ereignisse. Abends erlebten wir jedoch noch eine
unangenehme Überraschung. Als wir nämlich zum Melken gingen, liefen wir direkt
einem Panzerspähwagen in die Quere. Bald darauf fing der Feind an zu schießen.
Kreuz und quer flogen die Ge schosse durch die Luft. Das Vieh rannte wie wild
von einem Ende der Weide zum anderen. Vater und ich suchten in einem Graben
Schutz. Nach einigen Minuten merkten wir, daß es sich um ein Übungsschießen
handelte.
Am 28. April
räumten die Feindtruppen endlich unser Haus. Es war gegen Mittag, als sie
abzogen. Beim Abzug benahmen sie an sieh bedeutend angenehmer als bei ihrem
Kommen. Der Kommandant bedankte sich freundlicher Weise für das Quartier. Uns
aber fiel wieder einmal ein Stein vom Herzen, als wir wieder unter uns wAren.
Die Räume
waren fürchterlich zugerichtet. Die Soldaten hatten nicht nur alles kunterbunt
durcheinander geworfen, sondern auch die Fensterbänke und Möbel mit teilweise
unflätigen Worten bekritzelt. Auch
Im Hinterhause lag alles durcheinander. Beim Aufräumen fand Vater sogar
Zigarrenreste, obwohl der Kommandant das Rauchen unter Androhung von Erschießen
verboten hatte. Es mußte schon eine besondere Gunst des Schicksals sein, daß
kein Brand entstand.
Endlich
konnte Vater die Pferde hereinholen. Wir gewannen wieder Freude an der Arbeit.
Versteckte Sachen wurden wieder eingeräumt. Nun durften wir auch einmal die
Umwelt erneut ins Auge fassen. Aber welch ein schreckliches Bild! Wie hatte sich
alles verändert! Wo früher Häuser gestanden hatten, sah man nur noch
verkohlte Gerüste und Mauerreste. Überall schwebten Rauchwölkchen. Ehemalige
Besitzer standen ratlos vor den Trümmerhaufen. Innerhalb weniger Tage hatten,
sie alles verloren und nur das Leben gerettet. Sie standen mit einem Male vor
einem Nichts. Dies war besonders hart für ältere Leute, die in mühevoller
Arbeit sich ein Häuschen erarbeitet hatten. Man wurde von Eindrücken überwältigt,
die man im Leben nie mehr vergessen wird. Wir hörten, daß über dreißig Häuser
abgebrannt waren.
Das Wetter
wurde unbeständig und kalt, so daß das Vieh wieder aufgestaut werden mußte.
Immerhin hörten wir aus verschiedenen Richtungen noch den Kriegslärm. Es war
immer noch ein unsicheres Dasein, besonders auch deswegen, weil man nichts
erfahren konnte. Die Zeitungen hatten ihr Erscheinen einstellen müssen, auch
das Radio gab keine Nachrichten mehr.
Am 29. April
wurde uns mitgeteilt, daß der Übergang wieder freigegeben sei, obwohl das
Verbot, uns auf der Straße sehen zu lassen, noch nicht aufgehoben werde. Wir
machten uns auf den Weg zur Kirche. Dort ??ßten sich viele Bekannte und waren
froh, sich wiederzusehen. Alle hatten zuviel erlebt, um alles erzählen zu können.
Der Gottesdienst war stark besucht und nach ernster Andacht kehrte jeder nach
Hause zurück. Nachmittags besuchten Vater und ich die Familie L., die noch
immer ihr Unglück nicht fassen konnte. Von dem großen Hause war keine Stelle,
kein Fleckchen, vom Feuer verschont geblieben. Totes Vieh lag in der Nähe, es
war ein grauenvoller Anblick, ein Bild des Jammers und des Elends. Wir
versuchten redlich, zu trösten.
Am 30. April 1945. Der Winter machte sich noch einmal
bemerkbar mit Hagel und Schnee. So ging es nun vielen Menschen: Sie wollten
nicht begreifen, daß der Krieg für uns verloren war. So wurden immer wieder
neue Parolen aufgetischt: Nein, es sei noch lange nicht alles verloren. Unsere Führung
habe alles an die Front geworfen, wir würden wieder befreit. Auch Burlage würde
in den nächsten Tagen wieder frei werden; die SS würde es bestimmt schaffen.
Wenn wir auch nicht an diese märchenhafte Idee glaubten, so wurde doch immerhin
eine gewisse Unruhe in das Volk hineingetragen. Wir wußten manchmal nicht, was
wir tun sollten, denn letztlich ist im Kriege ja alles möglich. Wir mußten uns
in diese eigentümliche Lage fügen, wir konnten nichts daran ändern.
Nach etlichen
Tagen jedoch verstummte das Schießen immer mehr und die Gefahr, die Front könnte
noch einmal zurückkommen, wurde immer geringer. Nun durften wir auch wieder von
morgens früh bis abends spät. unserer Arbeit nachgehen und hofften, in Kürze
den nicht geringen Arbeitsrückstand aufzuholen. Nun war wohl für uns der heiße
Krieg überstanden.
Aber plötzlich
eine neue Heimsuchung: Herrschaft der KZ-Häftlinge! Hatten wir diese bis dahin
für unschuldig gehalten, so mußten wir jetzt die traurige Feststellung machen:
ein großer Teil war Schwerverbrecher. Einer war sogar ein Doppelmörder; er
hatte seine Eltern ermordet und sollte noch 15 Jahre Zuchthaus absitzen. Diese
Verbrecher nutzten nun die Gelegenheit aus, nachdem die Engländer die
entlegenen Dörfer verlassen hatten, sich als Räuber zu organisieren. An der
Spitze dieser Bande stand ein Erzbösewicht, der sich als von den Engländern
eingesetzter Kommandant aufspielte. Um sich herum hatte er viele Gleichgesinnte,
die als "Sekretäre" bezeichnet wurden. So bildeten sie eine Bande,
vor der niemand sicher war. Beim Bäcker nahmen sie das Brot und verteilten es.
Wer Glück hatte, bekam etwas, die anderen gingen leer aus. Die Geschäfte
wurden arg mitgenommen. Was dem Herrn Kommandanten besonders gut gefiel, war
sein Eigentum. Vieles wurde zertreten und zerschlagen. Hier forderten sie
Quartier, dort mausten sie Speck, Schinken und Wurst. Kleidung für sich hatten
sie schon in Hülle und Fülle besorgt, ebenso goldene Ringe und Uhren aller
Art. Auch gut erhaltene Fahrräder konnten sie gebrauchen. Für eilige
Dienstreisen benützte der Kommandant ein Motorrad, im übrigen fuhr er mit
Wagen und Pferd.
Jeder hatte
Angst vor dieser Bande und ging ihr möglichst aus dein Wege. Doch unter
irgendeinem Verwand, meist sollten die Betreffenden Nazis gewesen sein, kamen
sie unversehens fast in jedes Haus, ohne daß die Leute vorbereitet waren, um
sich dagegen verwahren zu können. Wo sie hinkamen, wurden Gegenstände
kurzerhand mitgenommen.
Eines
Tages kam der Herr Kommandant auch zu uns und brachte zwei kranke Russen, die
wir vierzehn Tage lang mit guter Verpflegung zu versorgen hatten; alles was sie
nur wünschten, sollten sie bekommen. Dies war nur ein Vorspiel. Am nächsten
Tage kam die ganze Bande zu uns. Das ganze Haus wurde durchsucht. Alles was sie
gebrauchen konnten, nahmen sie mit. Ohne uns wehren zu können, mußten wir dies
stillschweigend mit ansehen.
Am Abend
dieses Tages hörten wir die Kunde: Waffenstillstand. Wie hatten wir ihn
herbeigesehnt! Und doch, nun es soweit war, schien es uns fast gleichgültig. So
schwarz lag alles vor uns, zu neu waren uns die vielen Trümmer und Ruinen, die
durch den Kampf entstanden waren; dazu die Plünderungen. Wir waren ganz
verwirrt. Nein, so hatte es keinen Zweck weiter zu leben, meinte ein Nachbar. So
hatten wir uns einen Waffenstillstand in der Tat nicht vorgestellt. Aber es half
schließlich alles nichts, wir mußten noch einmal Mut fassen.
Wir gingen zu
den polnischen Zivilarbeitern, die sich ganz ruhig verhielten, und baten sie,
uns wieder zu den von der Räuberbande gestohlenen Sachen zu verhelfen. Die
Zivilarbeiter forderten energisch die Sachen zurück. Der Haupträuber konnte
nicht anders, er mußte unsere Sachen wieder restlos herausgeben. Darüber haben
wir uns natürlich sehr gefreut. Für diese Tat konnten wir den polnischen
Arbeitern nur den besten Dank sagen. Trotzdem plünderten die Räuber weiter,
allerdings nicht mehr bei uns. Schließlich drang der Gedanke doch durch, daß
die Engländer mit diesen Räubereien nicht einverstanden sein würden, mehrere
Einwohner hatten sich schon über ihr Treiben beschwert. Diese Beschwerden
hatten aber wohl nicht die entscheidende Stelle erreicht, es blieb zunächst
alles beim alten. Es schien, als sollte es immer so weitergehen.
Eines Tages
wurde ein Bürgermeister für die Gemeinde eingesetzt, der sich sofort mit der
zuständigen Stelle in Verbindung setzte. Nach zwei Tagen kam ein Auto mit
englischen Offizieren vorgefahren. Diese räumten gründlich auf mit der
unverschämten Bande. Der sich selbst zum Kommandanten gemachte Häuptling mußte
innerhalb weniger Stunden den Ort verlassen. Wieder waren wir von einem Unheil
befreit. Ob das nun das letzte sein sollte?
Die bei uns
untergebrachten Russen wurden abgeholt. Sie hatten ihren Dank abgestattet, indem
sie mehrere Kleidungsstücke aus dem Schrank geholt und mitgenommen hatten. Die
Hauptsache jedoch war, daß sie fort waren. Wir hatten erst einmal wieder das
Haus frei.
Nun war es
Juni geworden. Wohl standen uns die letzten Monate und Wochen mit allen schikanösen
und lebensgefährlichen Ereignissen noch klar vor der Seele. Es schien jedoch,
als wenn alles sich so nach und nach wieder beruhigen wollte, und wir bemühter
uns, allmählich wieder in ein geordnetes Leben zurückzukehren.
In den fortwährenden
Sorgen und Schrecken hatten wir kaum noch an die Brüder gedacht. Die Hoffnung
auf ihre Rückkehr aus dem Felde trat nunmehr in den Vordergrund Die bange
Frage; Haben sie den Krieg überstanden öder werden sie in Gefangenschaft
geraten sein? Nach langem Warten traf er sie unerwartet ein. Unbeschreiblich groß
war die Freude des Wiedersehens. Wir konnten es kaum fassen, daß wir noch so
viel Glück und Freude genießen durften, nachdem wir eine so qualvolle Zeit
durchlebt hatten.
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