Aus dem Fehntjer Kurier vom 19.11.1987:

Auch die Fehntjer Juden sprachen plattdeutsch

  Rhauderfehn (H).- Als der Fehntjer Kurier über den Pogrom vom 9./10. November 1938 berichten wollte, suchte die Redaktion vergebens nach Unterlagen. Zwar gibt es Untersuchungen über die jüdischen Friedhöfe in Ostfriesland. Auch über die Juden in Esens, Aurich, Leer und Papenburg gibt es ausführliche Veröffentlichungen. Nur über die Juden von Westrhauderfehn ließ sich nichts finden.

Bekannt ist, dass die SA/SS vom Bereich Weener am 9. November abends mit einem LKW voll Kanistern mit der Leerorter Fähre übersetzten und den Leuten sagten: "Guckt mal in einer Stunde nach Leer!" Da brannte dann die Synagoga (jüd. Gotteshaus), und die Feuerwehr hatte Anweisung nicht zu löschen.

Zufällig erhielt die Redaktion nun Kenntnis von einer Familiengeschichte, in der das Thema "Jüdische Nachbarn" behandelt wird. Agate Helling stellte uns das folgende Kapitel zum Vorabdruck zur Verfügung. Es handelt sich um den Schmiedemeister J. D. Brunsema, dessen Schmiede hinter dem Fehn- und Schifffahrtsmuseum wieder aufgebaut wurde.

Bilder zum Thema: (Bitte anklicken, um sie groß darstellen zu lassen!)
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Häuser der im Text behandelten jüdischen Familien, Kohlezeichnung von H. Freede

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Dieser Holzschnitt ziert den Einband von „Schmiede Brunsema“, eine von Agate Helling  vorbereitete Schrift.

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Beilage der ostfriesischen Tageszeitung vom 20. Juli 1935  „Rein deutsche Geschäfte in Leer“

  Was unseren Großvater veranlaßte, dem Juden Bernhard Weinberg einen Bauplatz zu verkaufen, hat er uns nie erzählt. Tatsache ist jedenfalls, dass er 1910 den vorderen Teil des Grundstückes an Weinberg aus Weener verkaufte. Dieser Bernhard Weinberg war mit einer kleinen Frau, geborene Grünberg, verheiratet, und ein Bruder der Frau zog mit in das neue Haus ein. Soweit bekannt, soll die Familie Grünberg das Geld zum Grundstückskauf gezahlt haben; es war jedenfalls eine begüterte Familie aus dem Textilhandel. Das Haus wurde gerade zur der Zeit gebaut, als über West- und vor allem Ostrhauderfehn die verheerende Windhose tobte. Tante Grete erinnert sich noch, daß die Zimmerleute während des Unwetters in der Brunsemaschen Gaststätte Unterschlupf suchten (Samstag, 4.6.1910).

Weinbergs hatten eine Tochter namens Lily. Mit ihr spielte Tante Grete oft. Die kleine Frau Weinberg rief dann eben: ,,Grete, wullt du woll mit Lilly spölen?". Und dann holte Tante Grete die etwas jüngere Lilly zum Spielen ab.

   Bei Brunsemas aß Lily durchaus ein Stück Speck. Aber ansonsten wurden die jüdischen Regeln streng beachtet. Wenn zum Beispiel am Freitagabend (Beginn des Sabbatfestes) Besuch aus Weener kam (es mußte immer eine bestimmte Anzahl Leute zusammensein bei den religiösen Feiern), dann hörte Tante Grete wohl den eigenartigen Singsang aus der guten Stube und mußte heimlich darüber lachen, weil es so eigenartig klang. Sie saß dann mit Lily in der Weinbergschen Küche.

   Wenn Tante Grete später nach Hause ging, machte sie überall das elektrische Licht aus, denn nach jüdischem Glauben durften Weinbergs und Grünbergs das selbst nicht tun.

Vor allem waren es (wie früher wohl immer) die Frauen, die auf Einhaltung der strengen Glaubensregeln achteten. So machten Tante Grete und auch wohl Tante Anni am Sonnabend, dem Sabbatfest, drüben den Herd an und schoben das am Tag vorher schon vorbereitete Essen auf den Herd, was Weinbergs selbst nicht durften. Anscheinend hatte die Maid Haan aus ldafehn dann frei.

   Bernhard Weinberg hatte einen Bruder Alfred, der ebenfalls eine Grünberg-Tochter geheiratet hatte. Diese beiden Brüder nahmen als Deutsche am ersten Weltkrieg teil! Das kann man sich heute nach den Greueltaten der Nazis während des 3. Reichs an der jüdischen Bevölkerung überhaupt nicht vorstellen. Beide Brüder waren deutsche Soldaten und kämpften für ihr Vaterland, denn sie fühlten sich als Deutsche. Und beide kamen genauso wie mein Vater heil und gesund aus dem 1. Weltkrieg wieder nach Hause. Leider läßt sich heute nicht mehr feststellen, in welchen Formationen sie gekämpft haben und welche Ehrenzeichen sie erlangten.

   Nach diesem ersten Weltkrieg jedenfalls zog Bernhard wieder zurück nach Weener, und sein Bruder Alfred wurde unser neuer Nachbar.

   Auch zu ihm entwickelte sich ein gutnachbarschaftliches Verhältnis. So zeigte Weinberg zum Beispiel unserem Großvater all seine Wertsachen, die er in einem Sekretär eingeschlossen hatte. Dies zeugt von einem großen Vertrauen, das diese beiden Männer einander entgegenbrachten.

   Auf der anderen Seite blieb Weinberg natürlich seinem Glauben treu. Als Opa ihm einmal einen Spaten besonders gut geschliffen hatte, mußte Weinberg doch den Spaten noch nachschleifen - das Unreine mußte weg, und Opa war ein bißchen böse -. ,,Man sull di de Spa um de Ohrn haun!"

   Wenn Weinbergs aber zu Ostern nach Weener fuhren, um ungesäuertes Osterbrot zu essen, dann kam Alfred und fragte Opa, ob er nicht eben die Kühe melken wolle, er dürfe die Milch auch behalten.

   Ansonsten sah es bei Weinbergs manchmal wie Kraut und Rüben aus, denn er handelte nicht nur mit Kühen, sondern auch mit Alteisen. Hinterm Haus lag ein  Riesenhaufen Schrott, und manchmal holten die Kinder hinten etwas weg und verkauften es ihm vorn wieder. Im übrigen aber war er hauptsächlich Großviehhändler. Auch Anton Hensmanns in Ostrhauderfehn hatte von ihm einmal eine Kuh und dann noch einmal eine hochtragende Färse gekauft und war ,,best tofree".

   Wenn Weinberg eine Kuh oder ein Rind kaufte, mußte der Bauer immer noch ein Huhn obendrauf geben. Weinbergs hatten so viele Hühner, daß die Nester überquollen vor Eiern.

   Grünberg, der früher in Textilien lief, schloß sich später dem Viehhandel seines Schwagers an. Von ihm wird erzählt, daß er in Burlage einmal einem Bauern einen Anzugstoff aus dem Koffer billig verkaufen wollte. Dem Bauern aber war das ,,zu billig", er wollte etwas Besseres haben. So ging Grünberg nach draußen zu seinem Fahrrad mit Anhänger und kam dann mit dem gleichen Stoff wieder, der nun aber wesentlich teurer war.

   Auch eine andere Begebenheit weist auf das kaufmännische Talent der Juden hin: Weinberg lieh sich von Opa Stockmar einmal 20 Mark (damals viel Geld). Als er es am Ende der Woche wiederbrachte (es durfte nicht über den nächsteb Sabbath hinaus behalten werden), fragte er Stockmar: ,,Oder kannst du mi dat noch maol lehnen?"

   Tant Grete jedenfalls meldete ihren Sohn Hermann (im zweiten Weltkrieg vermißt) gemeinsam mit Frau Weinberg und deren Tochter Frieda in der Grundschule Untenende bei Schulleiter Ubbo Janssen an. Da war die Welt auf dem Fehn noch in Ordnung. Zwar klagte die Oma Weinberg, wenn sie aus Buer am Wiehengebirge zu Besuch nach  Westrhauderfehn  kam, wie schlecht es ihr und den Jungen doch ginge, aber das war wohl irgendwie typisch: Nur nicht nach außen zeigen, daß man es zu etwas gebracht hatte! Weinberg selbst fuhr mit einem alten, klapprigen Fahrrad durch die Gegend.

   Anders wurde das alles dann 1933. Als Frau Weinberg da einmal mit dem Bus nach Weener fuhr, sei sie so oft und fies angepöbelt worden, daß die Nachbarn sich erstaunt fragten, was denn los sei. Und als Bernhard Weinberg aus Weener einmal zu Tant Grete mit einem Koffer kam und sie fragte, ob sie ihm nicht etwas abkaufen wolle, er dürfe nicht mehr offiziell handeln, da merkte man auch im Haus Brunsema, daß ,,neue" Zeiten angebrochen waren.

   Bürgermeister Eilts hatte sein Amt niedergelegt, und auch Papa hatte keine Gemeinderatssitzungen mehr. Der Kyffhäuserbund und der Kriegerverein wurde gleichgeschaltet und traten nun in SA-Kleidung auf (,,Braunhemden"). Als neue Größe trat Müller öffentlich auf und hielt Parteireden. Ortsgruppenleiter der NSDAP war Dr. Visher, und die anderen Parteien wurden aufgelöst. Die NS-Frauenschaft tagte bei Bahns im Saal, die Hitlerjugend wurde von Gärtner Meyer geführt.

   Und plötzlich tauchten zwei Männer von der Staatsanwaltschaft (Gestapo?) bei Papa auf und fragten nach Wertsachen, die Weinberg besessen habe. Denn Weinbergs wurden nach Leer zwangsumgesiedelt. Schiffsmakler Schaa erstand Weinbergs Grundstück zu einem Spottpreis (wofür er allerdings nach dem Krieg doch noch kräftig ,,nachzahlen" mußte), und dann verliert sich die Spur der Nachbarn im Trubel der Ereignisse des zweiten Weltkriegs.

   Nach dem Krieg tauchte Weinbergs Sohn Dieter dann noch einmal auf der Werft Schaa auf (bei der Witten Hüll). Auch der jüngste Sohn Albrecht hatte Papa noch einmal besucht und davon erzählt, wie seine Eltern im KZ aufgehängt worden seien und er da drunter durchlaufen mußte. Ihm war klar, daß der Fehntjer Schmied Brunsema von diesen Greueltaten tatsächlich nichts wissen konnte, denn solche Informationen drangen nicht bis nach Ostfriesland an den Moorrand. - Sein Bruder Dieter ist dann eines Tages im Backemoorer/Breinermoorer Hammrich tot umgefallen (Herzschlag?): danach ist er mit seiner Schwester Frieda nach New York gezogen. Leider war bei ihrem Besuch in Leer im Juni 1985 so wenig Zeit, daß sie ihre alten Nachbarn nicht haben aufsuchen können.

   Da wir nun schon beim Thema „Juden“ sind, wollen wir dieses Kapitel noch etwas erweitern. Weinberg und Grünberg handelten mit Großvieh und Alteisen. Moses Cohen dagegen, der auch Schlachter war, handelte nur mit Schafen und Ziegen. Er schlachtete sie „koscher“ (an dem superscharfen Messer durfte kein Blutstropfen dranbleiben; die Tiere wurden vorher nicht betäubt) und verkaufte das Fleisch dann an die Leute (kein Laden; mit dem Rad übers Land!). Bei Tant Grete wollte er zum Beispiel ein Schaf  kaufen, aber Jelleus wollte zuviel Geld, und Cohen sagte dauernd: ,,Kann nicht handeln, kann nicht handeln!"

   Ob dies nun jiddisch war, kann man den wenigen Worten nicht entnehmen.

   Die Weinberg-Kinder jedenfalls sprachen nur Platt wie alle Fehntjer. Moses Cohen wohnte dort, wo heute die Reil-Apotheke steht (früheres EWE-Gebäude). Das alte Fehntjer Haus stand längs zur Rhauderwieke (damals noch nicht verfüllt), das Wohnhaus zur Kirche hin ausgerichtet. Hier wohnte er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Walter und Bianca (wie es zu diesen beiden nichtjüdischen Namen kam, ist einer Nachfrage wert!). Die EWE  konnte  in der NS-Zeit das Grundstück ganz billig erstehen. Ob hier später ebenfalls ein Wertausgleich stattfand, entzieht sich meiner Kenntnis. Die beiden Kinder müssen so um 1905/10 geboren sein, wahrscheinlich hier auf dem Fehn.

   Cohen selbst hängte sich vor der Zwangsräumung auf, die beiden Kinder flüchteten mit der Mutter nach Holland. Sie sollen dann auf der Fahrt nach Osten in Leer auf dem Oldenburger Gleis noch einmal gesehen worden sein. (Sobobor/Auschwitz).

   Noch ein anderer Jude war schon vor dem ersten Weltkrieg auf dem Fehn ansässig geworden: Levy. Er handelte mit Alteisen und Lumpen in seinem Fehntjer Haus. das dort stand wo heute das Stammhaus von Möbel Wilts sich befindet. Hinter dem Haus war ein großer Schuppen, und dort lagerten die Lumpen, die die Kinder brachten, um sich ein paar Groschen zu verdienen. - Levy war irgendwie mit Meyers aus Sögel verwandt, und ein Frl. Meyer heiratete einen Hermann Gumpertz aus Holten. Dieser zog dann nach dem WK I mit seinem älteren Bruder Sally  - die übrigens beide große Sportler waren und sich bei Tura 07 als Spieler & Schiedsrichter betätigten - nach Westrhauderfehn und machte bei Levy einen Großhandel für Häute und Schuhmachereibedarf auf.

   Levy war wohl der Onkel, und zudem gab es dann noch den Schwager Meyer. Gumpertz hatten eine Tochter mit Namen Leni, die 1920 in Rhaudermoor geboren wurden. Mit dem Glauben nahm es wieder Frau Gumpertz sehr genau. Er sagte laut zum Lehrjungen Ali Brinkmann (von 1922 bis 24 + ein Jahr dazu): „Bring mal etwas Fleisch aus Leer mit (natürlich koscheres, er meinte dabei aber, daß Brinkmann es auf seiner Tour nach Papenburg von dort mitbringen sollte)“. Aber am Sonnabend wurde dort auch nur von den Christen gearbeitet, die Juden hatten ihren Sabbath.

   Beim Frühstück mußten die Angestellten in der Küche eine Zeitung drunterlegen, damit der Tisch nicht ,,unrein" wurde! Mittags mußten die Angestellten nach Hause. Als Lehrjunge war außer Ali Brinkmann dort noch Adolf Voßkamp. Conny Jacobs war Reisender, und Anton Heger saß auf dem Büro. Dazu gab es noch einen Woltermann. Es waren die schlechten Zeiten nach dem 1. Weltkrieg, und Papa Brinkmann meinte damals: ,,Wenn Du bi'n Jöd anfangen wullt, mußt du hengaohn."

   Die Felle von den Schlachtern holte Joh. Plümer (damals so eine Art Lohnunternehmer - Fuhrgeschäft) mit Pferd und Wagen ab. Hinterm Haus wurden sie dann gesalzen. In größeren Partien gingen sie mit der Kleinbahn weg zum Gerben. - Montags holte sich Gumpertz das Geld von der Bank zum Bezahlen der Rohfelle bei den Fleischern, am Freitag rechnete er dann wieder mit der Bank ab. Das hat er dann einmal vergessen. Als man ihn suchte, war er mit seiner Familie nach Holland abgereist.

   Die Juden machten sich gegenseitig keine Besuche. Das hatte nichts damit zu tun, daß Gumpertz als Großhändler immer gut angezogen und sehr patent war. Auch mit der Nachbarschaft hatten Gumpertz und Cohen nicht viel im Sinn.

   Ob der Textilhändler Ten Kaate Jude war, ist ebenfalls ungewiß: Hensmanns sagt ja, holländischer Jude. A. Brinkmann, der für ihn noch als Laufbursche und Gelegenheitsarbeiter arbeitete, weiß davon nichts. (Zeit etwa nach WK 1 bis 1929, soll angeblich samstags geöffnet gehabt haben).

Dann gab es da noch einen Juden Koch, der christlich eine Christin heiratete und damit kein Jude mehr war. Er wird 1935 noch in einer OTZ-Beilage genannt.