Weinberg / Grünberg

    Die Westrhauderfehner Weinbergs stammen aus dem Raum zwischen Wiehengebirge, Dümmer und Osnabrück. Die übrigen Weinberg-Familien im hiesigen Raum sind mit ihnen nicht näher verwandt.  Der Schlachter David Weinberg wohnte mit seiner Frau Julie geb. Silbermann, die aus Lemförde am Dümmer stammte, in Buer am Wiehengebirge. Dort war eine Synagoge und somit ein kleines jüdisches Zentrum. Die Weinbergs hatten mindestens acht Kinder: Emma, Levy, Minna, Israel, Heinemann, Bernhard, Alfred und Jakob.

    Nach dem Ausbau der Eisenbahnlinie Rheine - Norddeich in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts sahen sich zahlreiche Juden in Ostfriesland und im nördlichen Emsland um, und einige faßten hier Fuß. So auch die Weinbergs. Tochter Emma heiratete den Schlachter und Viehhändler Levi Löwenstein aus Weener, Westerstraße 30.

    Anläßlich der Besuche bei ihrer Schwester müssen die jüngeren Weinberg-Brüder Bernhard und Alfred die Familie Grünberg in Weener kennengelernt haben. Abraham Grünberg wohnte vorher mit seiner Frau Frauke geb. Cohen und den zehn gemeinsamen Kindern in Jemgum, betrieb aber nun mit seinen erwachsenen Söhnen einen Handel mit Fellen und Schrott in der Neuen Straße in Weener (heute: Kommerzienrat-Hesse-Straße). Bernhard Weinberg heiratete schon vor 1907 eine der älteren Grünberg-Töchter, nämlich Rahel, und stieg bei der Firma Abraham Grünberg und Söhne mit ein.

    Neben den Söhnen Aron und Hermann Grünberg, die schon auf eigene Rechnung Geschäfte machten und einen eigenen Hausstand hatten, waren dort noch die Brüder Philipp, Max und Wilhelm Grünberg, sowie die vier Schwestern seiner Frau Rahel: Caroline, Rosa, Marianne und Flora. Da abzusehen war, daß auch die noch ledigen Brüder bald eigene Familien gründen würden, sah sich Schwiegervater Abraham Grünberg nach Möglichkeiten um, sein Geschäft zu erweitern.

    Als neuen Standort guckte er sich Westrhauderfehn aus. Dort war ein Eisenbahnanschluß (Kleinbahn mit Normalspur) in der Planung, und in dem aufstrebenden Ort gab es noch keinen jüdischen Händler für Alteisen und Felle, sondern nur zwei Viehhändler und Schlachter, de Levie und Cohen. Es lohnte sich also, dort zu investieren.

    Der Schmiedemeister Brunsema verkaufte ihm einen Bauplatz mit einem Stück Land in einer hervorragenden Lage am Untenende. Grünberg und Weinberg bauten darauf im Jahre 1910 ein modernes geräumiges Haus im Fehntjer Stil mit einem großen Hinterhaus. 

    Dorthin zogen Bernhard Weinberg und Frau Rahel mit Tochter Lily (* 1907) und Philipp Grünberg, der wie sein Schwager Bernhard Weinberg zusätzlich zum Fell- und Schrotthandel noch als Viehkaufmann tätig war. Im Jahre 1915, mitten im ersten Weltkrieg, bot er zum Beispiel  mittels einer halbseitigen Anzeige im Anzeiger für das Overledingerland einen ganzen Transport ostpreußischer Pferde zum Verkauf an, bar und auf Zahlungsfrist. Pferde waren damals gesucht, denn sie wurden im Krieg massig verschlissen.

    Die Familie war bald gut etabliert. Frau Rahel beschäftigte ein Dienstmädchen wie damals in Geschäftshaushalten üblich, und Tochter Lily hielt sich gerne bei den Nachbarn Brunsema auf, die eine Schmiede hatten, und deren halbflügge Töchter bei den Weinbergs die Rolle der "Sabbat-Goijs" übernahmen, d.h., sie verrichteten alle notwendigen Arbeiten wie Feuer machen, Licht anzünden und löschen und Essen aufwärmen, die Weinbergs selbst am Sabbat nicht erledigen durften.

    Im Jahre 1917 kam Bernhards Mutter Julie Weinberg für ein halbes Jahr von Buer nach Westrhauderfehn, zu welchem Anlaß sie sich ordnungsgemäß beim Einwohnermeldeamt an- und abmeldete.

    Ein Jahr nach dem Ende des ersten Weltkrieges, am 29. 11. 1919, starb Schwiegervater Abraham Grünberg in Weener. Die Familie und die Firma wurden neu organisiert. Aron Grünberg, der schon ein eigenes Haus am Hafen in Weener bewohnt hatte, zog mit seiner Familie von Weener weg. Hermann Grünberg, der auch ein eigenes Geschäft in der Feldstraße (heute: Risiusstraße) in Weener betrieb, zog mit seiner Familie nach Leer in die Bremer Straße. Dort ließ sich auch Philipp Grünberg nieder. Er kaufte ein Haus in der Reimerstraße 6 neben der Bahn. Wilhelm Grünberg, der 1920 für ein paar Wochen in Westrhauderfehn wohnte und sich danach noch in Ihrhove umguckte, zog auch nach Leer und kaufte ein Haus in der Bremer Straße 14 neben Steinmetz Nanninga. Leer war damals für Viehhändler sehr attraktiv, denn dort entwickelte sich zu der Zeit der größte wöchentliche Viehmarkt in ganz Deutschland. Wenn man auf diesem Berufsfeld erfolgreich sein wollte, war es sinnvoll,  dort auch zu wohnen.

 Für das Geschäft Abraham Grünberg und Söhne in Weener blieb nur mehr Sohn Max Grünberg übrig. Deshalb zogen Bernhard Weinberg und Frau Rahel mit Tochter Lily 1920 in das schwiegerelterliche Haus nach Weener zur Witwe Frauke geb. Cohen. Schwägerin Flora Grünberg, Rahels jüngere Schwester, heiratete Bernhards Bruder Alfred Weinberg, der aus dem Krieg zurückgekehrt war und schon im November 1919 von Buer nach Westrhauderfehn zog, um die reibungslose Übergabe des Geschäfts abzuwickeln. Im Januar 1920 kam dann auch Frau Flora nach Westrhauderfehn.

 Nachdem zwischen Frau Rahel und ihrem Ehemann notariell eine Gütertrennung vereinbart worden war, führte Bernhard Weinberg zusammen mit seinem Schwager Max Grünberg das Schrott- und Fellhandelsgeschäft in Weener weiter, bis sie es in der NS-Zeit aufgeben mußten. Im Jahre 1935 wurde ihr Geschäft in Weener in der Kommerzienrat-Hesse-Straße in einer Hetzbeilage der Ostfriesischen Tageszeitung noch als jüdisches Geschäft aufgeführt und sowohl Max Grünberg als auch Bernhard Weinberg wurden als jüdische Viehhändler genannt.

    Tochter Lily bekam 1935 noch eine kleine Tochter, Rosel. 1938 zog Max Grünberg nach Bremen, und die Familie Weinberg folgte 1940. Alle kamen später um. Schwiegermutter Frauke starb am 3. 2. 1937 in Weener.

    Alfred Weinberg und Frau Flora konnten 1920 in Westrhauderfehn die Geschäftsverbindungen übernehmen, die ihre Geschwister seit 1910 geknüpft hatten. Hatte Bernhard Weinberg das Geschäft noch mit den ledigen Grünberg-Brüdern Philipp und Wilhelm gemeinsam aufgebaut und betrieben, wie aus dem Adreßbuch von 1910 und aus der Mitteilung auf einer Postkarte von Viehhändler Julius Frank aus Leer an Frau Poppen in Ostrhauderfehn von 1912 zu ersehen ist, so geht aus dem Adreßbuch von 1926 klar hervor, daß Alfred Weinberg das Geschäft jetzt allein führte. Laut Schmiedemeister Brunsema, der ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu Alfred Weinberg hatte, wurde er nach einiger Zeit ziemlich wohlhabend. Trotzdem war er sich nicht zu schade, auch kleine Verdienstmöglichkeiten wahrzunehmen, und wenn es der Kater der Familie Reents aus Ostrhauderfehn war, den er unentgeltlich mitnehmen konnte. Um bei seinen oft einfachen Geschäftspartnern keine übertriebenen finanziellen Begehrlichkeiten zu wecken, stellte er seinen bescheidenen Reichtum nicht zur Schau, sondern fuhr mit einem alten Fahrrad zu seiner Kundschaft.

    Bei den Weinbergs stellte sich bald Kindersegen ein: Am 23. 8. 1922 wurde Diedrich geboren - Dieter gerufen -, am 14. 11. 1923 Frieda - Friedel genannt - und am 7. 3. 1925 Albrecht. - Frau Flora beschäftigte ein Kindermädchen, Anni Lüdemann aus Leer, bis zum Sommer 1923, und bereits im Januar 1923 zog eine junge Verwandte ihres Mannes, Johanna Weinberg (* 13. 2. 1899 in Ennigloh), zu ihnen nach Westrhauderfehn. Sie meldete sich als Pensionärin auf dem Einwohnermeldeamt an und blieb bis zum 25. 9. 1924, als sie sich nach Ahle bei Herford verabschiedete. Ansonsten gehörte laut Auskunft der ehemaligen Nachbarin Agathe Helling geb. Brunsema noch eine Eggeline Meyer aus Rhaudermoor zu den Haushaltshilfen. Sie soll auch die Rolle des "Sabbatgoijs" wahrgenommen haben.

    Neben dem Vieh-, Fell- und Schrotthandel betrieben die Weinbergs, wie alle Viehhändler damals, auch eine kleine Landwirtschaft. Dini Schustereit geb. Saadhoff aus der Nachbarschaft erinnert sich, daß sie früher bei Weinbergs Milch holte wie sicherlich auch noch andere Nachbarn. Agathe Helling sieht noch die vielen Hühner und die von Eiern überquellenden Nester vor Augen. Alfred Weinberg bekam bei seinen Geschäften oft ein Huhn "up Koop toe".

    Die drei Weinberg-Kinder besuchten alle die heutige Sundermannschule am Untenende. Sie waren Untenendjer Kinder wie andere auch. Es muß für sie sehr schmerzlich gewesen sein, als sie nach 1933 von ihren Mitschülern und Lehrern mehr und mehr ausgegrenzt wurden, bis ihnen ab 1. 1. 1936 der Besuch der Schule Untenende laut Verfügung vom 10. 9. 1935 ganz verboten wurde.

   Die nächste jüdische Schule war in Leer. Die bis dahin einklassig geführte Einrichtung war auf den plötzlichen Schüleransturm aus allen Teilen des Landkreises gar nicht eingerichtet und bald hoffnungslos überfüllt. Obwohl der israelitische Lehrer Spier sein Bestes versuchte, fehlte es an allen Ecken und Enden.

    Dieter, Friedel und Albrecht Weinberg konnten nun während der Woche nicht mehr bei ihren Eltern in Westrhauderfehn wohnen, denn der Schulweg war zu weit und bei einer täglichen Fahrt mit der Kleinbahn nach Leer hätten sie zu viele Pöbeleien der Mitreisenden über sich ergehen lassen müssen. Außerdem wäre es ihren Eltern schwer gefallen, das Geld für die Fahrkarten aufzubringen, denn die Geschäfte gingen in diesen Jahren schon spürbar schlechter.

    Wie gut war es deshalb, daß sie Verwandte in Leer hatten! Die Weinberg-Kinder kamen bei dem Onkel Philipp Grünberg in der Reimerstraße 6 unter. Sie hatten diese Verwandten früher oft anläßlich der Synagogenbesuche in Leer aufgesucht. Außerdem waren ihr Cousin Artur und ihre Cousinen Ruth und Elfriede im gleichen Alter. 1939 mußte dann  die jüdische Schule in Leer ihre Pforten schließen, denn der NS-Staat wollte nicht mehr für die laufenden Kosten aufkommen und die Lehrer nicht mehr bezahlen. Die jüdische Gemeinde in Leer und fast alle ihre Mitglieder hatten dafür nach den Ereignissen der "Kristallnacht" auch keine Mittel mehr. Den jugendlichen Juden blieb nur noch die Möglichkeit, in Jugendcamps zu arbeiten oder unter Zurücklassung aller Habe auszuwandern, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

    Gleich zu Beginn der NS-Zeit, im April 1933, gab es eine Aktion "Boykott der jüdischen Geschäfte".SA-Leute stellten sich ein paar Tage lang vor die jüdischen Läden und wollten die Kunden vom Einkaufen abhalten, um den Juden auf diese Weise Verdienstausfälle zu bescheren. Man hoffte, die Juden langfristig zum Auswandern bewegen zu können, wenn die Käufer ausblieben. Diese Hoffnung der NS-Regierung ging aber in der Branche des Viehhandels im nordwestdeutschen Raum nicht in Erfüllung, denn ohne die jüdischen Viehhändler wäre die gesamte Infrastruktur des Viehhandels zusammengebrochen, da die Juden in dieser Branche fast ein Monopol hatten. Die Bauern setzten ihre Geschäfte mit den Juden fort, zumal ihnen deren Geschäftsusancen besser gefielen als die Praktiken vieler nichtjüdischen Händler.

    Das änderte sich erst 1935, als die Juden durch die "Nürnberger Gesetze" zu Menschen minderen Rechts gemacht wurden.Es war zwar noch nicht verboten, mit Juden Geschäfte zu machen, aber zwei Jahre antijüdische Hetze übelster Sorte und zwei Jahre "Gleichschaltung" aller Medien und gesellschaftlicher Gruppen mit entsprechender Einschüchterung der Abweichler ließen nach und nach die Geschäfte der Juden immer schlechter gehen. Auch gutwillige Leute scheuten sich davor, im "Stümerkasten" als Judenknechte angeprangert zu werden und sahen sich nach Alternativen um. Und die gab es mittlerweile auch im Viehhandel, denn die NS-Regierung hatte das Bezugs- und Absatzgenossenschaftswesen im ländlichen Raum stetig ausgebaut.

    Auch beim Vieh-, Fell- und Schrotthändler Alfred Weinberg in Westrhauderfehn liefen die Geschäfte nicht mehr richtig. 1935 machte die Ostfriesische Tageszeitung in einer Hetzbeilage die Leser noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam, daß das Produkten- und Viehgeschäft von A. Weinberg in Westrhauderfehn ein jüdisches Geschäft sei. 1937 sah sich Alfred Weinberg gezwungen, sein Haus in Westrhauderfehn an den Schiffsmakler und Werftbetreiber Harm Schaa von der Witten Hülle weit unter Preis zu verkaufen. Er zog mit Frau Flora jetzt auch nach Leer in die Reimerstraße 6.

    Um diese Zeit lebten viele jüdischen Familien nur noch von ihrer Substanz und hofften auf bessere Zeiten. Viele wagten auch im Ausland einen Neuanfang, vor allem in Holland. Es war aber zu dieser Zeit schon schwierig, ein Visum zu bekommen. Außerdem mußte man als Jude jeglichen Besitz zurücklassen, wenn man offiziell auswanderte. Man kam dann also mit leeren Händen in dem fremden Land an. Da Grünbergs und Weinbergs keine Verwandtschaft in Holland hatten wie etliche andere hiesige jüdische Familien, blieben sie in Leer.

    In der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde auch den letzten Juden mit einem Schlag klar, daß man auf eine Besserung der Verhältnisse in Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr hoffen konnte. Überall in Deutschland und dem inzwischen angeschlossenen Österreich brannten in dieser Nacht und am folgenden Tag die Synagogen. Was als spontaner "Volkszorn" ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit eine gezielt vorbereitete Aktion der NS-Regierung.

    Auch in Leer brannte unter Anleitung von Bürgermeister Drescher bald die große Synagoge an der Heisfelder Straße. Die jüdischen Familien wurden aus den Häusern geholt und auf die Nesse zum Viehhof getrieben. Dort sperrte man sie in den Schweinestall. Jüdische Geschäfte und Wohnhäuser wurden zum Teil demoliert und geplündert.

    Auch bei den Grünbergs in der Reimerstraße und in der Bremer Straße erschienen SA-Leute und konfiszierten alles, was irgendwie ein bißchen wertvoll aussah: silberne Bestecke, Silber- und Zinnbecher, Armbänder, eine Kaffeekanne, ein Radio, 900 RM in bar und zwei Sparbücher, die aber fast kein Guthaben mehr aufwiesen.

    Die Frauen und Kinder ließ man im Laufe des 10. November nach Hause gehen, die Männer wurden in den nächsten Tagen zusammen mit den Männern der übrigen jüdischen Gemeinden aus der Umgebung über Oldenburg in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert. Unter ihnen waren auch Alfred und Bernhard Weinberg und ihre Grünberg-Schwagern. Die meisten ließ man in den nächsten Wochen und Monaten wieder frei, wenn sie sich verpflichteten, über ihre Behandlung nichts weiterzuerzählen. Etliche ältere und gesundheitlich angeschlagene Männer überlebten diese Zeit nicht.

    Die zurückgebliebenen Frauen und Kinder standen nun ziemlich mittellos da. Abgesehen von der Tatsache, daß sie auf eigene Rechnung dafür zu sorgen hatten, daß die Spuren der Plünderungen und Zerstörungen beseitigt wurden, wurde allen Juden eine "Schuld" von einer Million Reichsmark auferlegt, angeblich für die Unkosten, die durch den organisierten "Volkszorn" entstanden waren. Aus diesem Grunde wurden die restlichen jüdischen Häuser "zwangsarisiert", auch die Häuser der Grünberg-Brüder in Leer und Weener, den Verkaufserlös erhielt der Fiskus. Damit die Frauen und Kinder nun nicht verhungerten, zahlte man ihnen von dem beschlagnahmten Geld hin und wieder kleine Unterstützungsbeträge von fünf oder zehn Reichsmark aus. Auch die Weinbergs und Grünbergs erhielten im November je zweimal zehn bzw. fünf Reichsmark.

    Wie etliche andere Jugendliche versuchten die Weinberg-Geschwister, die jetzt im Teenageralter waren, von Leer wegzukommen. Die jüdische Kultusvereinigung bot seit einigen Jahren in speziellen Jugendcamps Ausbildungsmöglichkeiten im Handwerk und in der Landwirtschaft an, um die Jugendlichen für ein Leben in Palästina vorzubereiten. Dieter Weinberg zog schon am 14. Dezember 1938 nach Ahlen. Friedel und Albrecht brachen am 29.April 1939 nach Groß-Breesen bei Guben an der Oder auf. Doch in diesen Camps hatte zu dieser Zeit die jüdische Kultusvereinigung nur noch nominell das Sagen, in Wirklichkeit bestimmten die NS-Behörden, was dort zu geschehen hatte. Sie funktionierten die Camps bis zum Beginn des Krieges in reine Arbeitslager um.

    Für die noch verbliebenen Juden in Leer gab es bald eine neue Hiobsbotschaft: Im Januar 1940 beschloß die Gestapo-Leitstelle in Wilhelmshaven, die für das hiesige Gebiet zuständig war, Ostfriesland als "Grenzgebiet zum Feindesland" von potentiellen Spionen zu säubern. Da Juden per se als Feinde des deutschen Volkes galten, beauftragte man den Auricher Synagogenvorsteher Wolffs, bzw. dessen Sohn, dafür zu sorgen, daß alle Juden Ostfrieslands sich bis zum 1. April 1940 einen neuen Wohnsitz außerhalb Ostfrieslands suchten. Wer keine neue Bleibe fand, mußte sich den organisierten Transporten nach Berlin anschließen.

    Mit einem dieser Transporte verließen auch Alfred und Flora Weinberg die Reimerstraße in Leer am 16. 2. 1940 in Richtung Berlin. Hatten die Weinbergs während der mageren letzten Jahre in Leer und Weener immer noch Bekannte gehabt, von denen sie ein wenig Unterstützung erhoffen konnten, wie zum Beispiel die frühere Nachbarin Grete Janssen geborene Brunsema, zu der Bernhard Weinberg ab und zu heimlich mit dem Warenkoffer kam, um ihr ein paar Kleinigkeiten zu verkaufen, so war ihnen in Berlin alles fremd. Auch wenn Dieter, Friedel und Albrecht in Berlin zeitweise wieder bei ihren Eltern wohnten, waren diese körperlich und seelisch so geschwächt, daß sie nach ihrer Deportation nach Auschwitz im März 1943 keine Chance zu Überleben mehr hatten. 

   Dieter, Friedel und Albrecht kamen auch ins KZ: Dieter wurde im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und Albrecht im April 1943. Beide mußten dort für IG-Farben arbeiten. Friedel wurde im April 1943 nach Ravensbrück ins Frauen-KZ gebracht. Gegen Kriegsende trafen sie sich nach etlichen Gewaltmärschen alle drei im KZ Bergen-Belsen wieder. Dort wurden sie im April 1945 von den Engländern befreit.

    Nach Kriegsende kehrten sie nach Leer zurück und erfuhren dort, daß außer ihren Eltern auch alle ihre Onkel und Tanten umgekommen waren, nur einige Cousins und Cousinen waren noch am Leben. Sie standen jetzt praktisch vor dem Nichts wie so viele in dem desolaten Nachkriegsdeutschland. Da jeder mit seinem eigenen täglichen Überlebenskampf beschäftigt war, konnten sie auch nirgends Unterstützung erwarten

    Mit ihrem angeheirateten Vetter, dem Arzt Dr.Mayring aus Collinhorst, der mit Cousine Rosa Löwenstein aus Weener verehelicht war, besuchten Dieter und Albrecht noch einmal ihre alten Nachbarn Brunsema in Westrhauderfehn. Auch erhielten sie von dem jetztigen Besitzer ihres früheren Hauses am Untenende, Harm Schaa, noch einen Nachschlag zur damals unreellen Kaufsumme.

    Da Dieter gesundheitlich sehr angeschlagen war, verstarb er plötzlich am 13. 10. 1946 im Breinermoorer Hammrich auf dem Weg von oder nach Leer an einem Herzschlag. Er wurde auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beerdigt (Grab Nr. 227).

    Friedel und Albrecht beschlossen nun, möglichst weit weg von Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Sie wanderten nach New York aus, wo sie noch heute wohnen, in der Gemeinde von Rabbi Gans, der auch aus Leer stammt. Die meisten ihrer überlebenden Cousins und Cousinen ließen sich in Holland nieder, ein paar auch in den USA, und Vetter Artur Grünberg aus der Reimerstraße wohnt heutein Australien.

    Schon in den frühen fünfziger Jahren weilten Friedel und Albrecht ab und an bei ihren Verwandten in Holland. Nach Leer kamen sie 1985 und 1995 anläßlich der Einladung der überlebenden ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt. Bei diesen Gelegenheiten besuchten sie auch kurz Westrhauderfehn.

    Im Jahre 1996 endlich kamen sie auf Einladung der Gemeinde Rhauderfehn für eine Woche nach Westrhauderfehn. Sie wohnten während der Zeit in Leer. Albrecht und Friedel Weinberg legten Wert darauf, mit der Jugend ins Gespräch zu kommen. Sie diskutierten mit Realschülern in der Kreisrealschule Overledingerland und mit Jugendlichen vom Arbeitskreis Schule in Burlage. Sie beantworteten Fragen auf einer großen öffentlichen Informationsveranstaltung im Rathaus Rhauderfehn und folgten einigen Spuren ihrer Kindheit. So nahmen sie unter anderem an einer Einschulungsfeier in der Sundermannschule teil.

    Zwei Jahre später kamen Friedel und Albrecht Weinberg erneut aus New York angereist, um am 3. September 1998 im Beisein der Oldenburger Rabbinerin Lea Wyler und zahlreicher lokaler Prominenz in Westrhauderfehn auf dem Ehrenfriedhof an der 1. Südwieke einen Gedenkstein für die Opfer der Nationalsozialistischen Herrschaft zu enthüllen. So gibt es zwischen den letzten beiden Westrhauderfehner Juden und ihrem früheren Heimatort, der sie 1936 loswerden wollte, doch wieder versöhnliche Gesten.